Reif für die Insel
diese Hitze! Es ist noch nicht mal zehn, aber sie steht schon wie eine Warnung über der Buhne 16, bewegungslos und still. Sehr still!
|109| Ich habe es nicht fertiggebracht, zum Lister FKK-Strand zu fahren. Nein, nicht heute! Nicht nach diesem Abend! Als ich nach Hause fuhr, war wieder dieselbe gespenstische Stille in mir, die auch auf der Rückfahrt vor vierzig Jahren nicht zu vertreiben gewesen war. Niemand wusste, wie es um Werner stand, die Angst um ihn und die Hilflosigkeit machten uns stumm. Paul hatte einen anderen Zug genommen. Plötzlich war sein Gepäck verschwunden, und der Herbergsvater erklärte uns: »Der Junge hat sich schon vor einer Stunde aufgemacht. Er will per Anhalter nach Westerland.«
Wir anderen waren froh darüber, nur Uschi nicht. Sie versuchte Paul zu verteidigen, hielt uns immer wieder vor, dass wir ihn verurteilten, ohne Beweise zu haben, wurde aber jedes Mal niedergeschrien, sodass sie sich schließlich in Pauls Schuld fügte. Oder jedenfalls tat sie so. Als sich aber bald darauf herausstellte, dass Paul und Uschi zusammen waren, wussten wir, dass sie sich lediglich der Übermacht ergeben hatte. Rolf, Elena, Bärbel und ich haben nie mit ihr darüber gesprochen. Paul war Luft für uns, und da Uschi von da an ständig an seiner Seite war, haben wir über sie genauso hochmütig hinweggesehen wie über Paul. Zum Glück waren es nur noch zwei Wochen bis zur Schulabschlussfeier. Ich war froh, Pauls unglückliches Gesicht nicht mehr sehen zu müssen, und froh, dass ich es geschafft hatte, mit niemandem über meine wahren Gefühle zu reden. Elena hätte mir nie verziehen, wenn ich ihr gestanden hätte, dass Paul mir leid tat. Und als ich später einmal zufällig beobachtete, dass Uschi immer noch das Gedicht bei sich trug, das Paul eigentlich mir geschenkt hatte, war ich glücklich, dass ich |110| niemals ausgesprochen hatte, wie sehr ich den Mut bewunderte, mit dem sie zu Paul stand. Ich selbst hatte nicht zu ihm gestanden. Dabei war ich es gewesen, der er ein Gedicht geschrieben hatte, nicht Uschi.
Die Hitze wird schwerer, der heraufziehende Mittag noch stiller. Die Kinder hocken träge im Sand, einige stehen bis zu den Knien im Wasser und lassen sich die lustlosen Wellen an die Schenkel schwappen. Kein Grund zu jubeln und zu kreischen. Die Hitze lähmt.
Diesmal habe ich den kleinen Sonnenschirm mitgebracht, dessen zugespitzter Stiel sich in den Sand spießen lässt, und einen Sonnenhut habe ich auch dabei. Von der Sonnenmilch mit dem hohen Lichtschutzfaktor ganz zu schweigen. Ja, ich habe an alles gedacht.
Der Weg vom Gipfel der Dünen bis zur Wasserkante ist weit, aber diesmal bewältige ich ihn ohne Weiteres. Ich habe es mir fest vorgenommen, heute die Bühne nicht nur zu betreten, sondern mich auf ihr zu bewegen. Und es gelingt mir. Elenas gutes Zureden zeigt allmählich Wirkung. Oder ich habe mich nun an dieses Leben ohne Georg gewöhnt. Ja, ich glaube, das ist es. Gestern Abend ist mir so richtig klar geworden, wie angenehm das Leben ohne Mann ist.
Habe ich die Haustür abgeschlossen? Die Terrassentür? Die Strandtasche wiegt plötzlich doppelt so schwer, aber nach ein paar bedrückenden Augenblicken schultere ich sie umso energischer. Sicherlich habe ich alles verriegelt. Warum auch nicht? Und die Gefrons haben gesagt, sie wollen heute nicht zum Strand. Die werden schon merken, |111| wenn sich jemand an meinem Ferienhaus zu schaffen macht.
Obwohl … die lautstarken Debatten auf der Terrasse des Nachbarhauses sprechen nicht dafür, dass das Verlegerehepaar und ihr Autor an etwas anderes denken als an den missglückten Abend. Verrückt war das, total verrückt!
Nun bin ich in der Mitte des Strandes angelangt, wo Georg die Decke ausgebreitet hätte. Will ich mich hier wirklich niederlassen? Verloren komme ich mir vor, als ich mich einmal um mich selbst gedreht habe. Besser, ich gehe näher zur Wasserkante, an eine Begrenzung des Strandes, die ihn nicht mehr so beklemmend weit macht. Dort ist es auch geringfügig kühler.
Puh, es tut gut zu liegen. Decke ausbreiten, Schirm aufstellen, ausziehen, eincremen – das alles war schon zu viel bei dieser Hitze. Ich bin in Schweiß gebadet. Wie schön wäre es, wenn jetzt ein kühler Wind über meine Haut strich! Aber die Hitze steht weiterhin bewegungslos über mir. Wenn die Sonne auf ihrem Zenit angekommen ist, wird es hier unerträglich werden. Diese regungslose heiße Luft gibt es selten auf Sylt.
Gestern Abend war es so ähnlich.
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