Reif für die Insel
kommen. Aber als er früh morgens erwachte, empfand er schon bald diese bleierne Gelassenheit, die sich wie schlechte Luft in ihm ausbreitete. Seitdem fällt es ihm schwer durchzuatmen, er fühlt sich nicht wohl – aber immerhin ist er ganz ruhig.
Er liegt in einer Mulde oberhalb des Strandes und sucht |115| nach Gründen, warum er noch auf Sylt ist. Um weiter nach Sophia zu suchen? Vielleicht. Aber dagegen steht die Gefahr, Uschi zu begegnen. Was wiegt schwerer – die Chance oder das Risiko? Paul entscheidet sich mal für das eine, mal für das andere. So, wie er am Morgen geschwankt hat zwischen dem Wunsch, wieder zum Lister FKK-Strand zu fahren, und der Angst davor, Sophia ausgerechnet dort erneut zu begegnen. Am Ende hat er sich entschlossen, zur Buhne 16 zu fahren. Vermutlich gehört Sophia, wie die meisten Sylt-Urlauber, zu denen, die immer wieder denselben Strandabschnitt aufsuchen, weil sie sich dort besonders wohlfühlen. An der Buhne 16 fühlt er sich sicher.
Warum ist Uschi nach Sylt gekommen? Wahrscheinlich hat Raffael Sielmann sie gerufen. Aber warum braucht er ihre Unterstützung? Oder ist sie hier, um nach ihrem Ex-Mann zu suchen? Auch möglich. Andererseits … was will sie noch von ihm? Die Ansprüche, die noch immer in ihr rumoren, hat sie nicht mehr. Das muss sie eigentlich wissen.
Paul stöhnt auf und dreht sich auf den Bauch, um aufs Meer blicken zu können. »Verdammt, Uschi!«
Er konnte sie nur anstarren, gestern Abend. Die himmelblaue Gestalt nahm ihm den Atem. Ohne seine Eintrittskarte zu zücken, drängte er sich Uschi hinterher. Der Saalordner streckte die Hand nach der Karte aus, ließ ihn dann aber passieren, weil er sich daran erinnerte, dass er Paul schon einmal eingelassen hatte. Und dann stand plötzlich auch Sophia da. Obwohl er auf ihr Erscheinen gehofft hatte, brachte ihn ihr Anblick aus der Fassung. Sie war in der Badebuchhandlung gewesen, hatte ein Davidson-Buch |116| gekauft, war es da nicht zu erwarten, dass sie auch nach einer Eintrittskarte für die Lesung fragte? Paul hatte es sich gewünscht – und stand nun doch wieder so nackt da wie vor vierzig Jahren. Auch das Gedicht baute sich zwischen ihnen auf wie damals.
Sophia war ganz in Schwarz gekleidet. Sie musste durch die andere Tür den Saal betreten haben, während Paul der himmelblauen Uschi nachstarrte. Fasziniert beobachtete er, wie Sophia plötzlich stutzte, wie Uschi stehen blieb, wie eine sich der anderen ins Blickfeld stellte, sich ihr präsentierte, auf eine Reaktion wartete, jede der beiden mit der Frage beschäftigt, ob die andere es wirklich war, deren Bild sich in vierzig Jahren zwar verändert, aber doch so vieles bewahrt hatte.
Und dann gingen sie wirklich aufeinander zu. Uschi himmelblau, Sophia schwarz, elegant, sehr schick, aber eben … schwarz. Paul wollte Sophia genauso wenig in diesem eleganten Schwarz sehen wie Uschi in dem Himmelblau. Während ihrer Ehe hatte sie sich ein einziges Mal einen hellblauen Pullover gekauft, und er hatte ihn eigenhändig in den Kleidersack gestopft und dem Roten Kreuz gespendet. Uschi wusste, dass er sie nicht in himmelblauer Kleidung sehen wollte. Entweder rechnete sie nicht damit, Paul auf Sylt anzutreffen, oder sie wollte ihn provozieren, oder … es war ihr gleichgültig, wie er darauf reagierte. Sie wollte endlich himmelblaue Kleidung tragen, so viel sie wollte, jetzt, wo niemand mehr Anstoß daran nahm. Irgendwie hatte Paul Verständnis für sie.
Raffael Sielmann blieb abwartend stehen, als er sah, dass |117| Uschi und Sophia sich begrüßten, aber Paul konnte beobachten, dass beide Frauen nervös wurden unter seinem Blick. Raffaels Warten nahm ihnen die Zeit. Vielleicht wollte er höflich sein, aber in Wirklichkeit drängte er sie mit diesem Warten mehr, als wenn er ihr Gespräch unterbrochen hätte.
Endlich hatte ich Elena mal was zu erzählen! Wie habe ich es genossen! Bisher habe ich Elenas aufregenden Männergeschichten immer nur meinen Ehefrust entgegensetzen können. Aber nun war ich endlich auch einmal auf der Sonnenseite des Erzählens angekommen. Ich redete mir gestern Abend nichts von der Seele, suchte keinen Rat, kein offenes Ohr für meine Probleme, nein, ich hatte etwas Spannendes erlebt, was meine beste Freundin brennend interessierte. Wie schön dieses Gefühl war, hatte ich vollkommen vergessen.
»Es hätte mir gleich auffallen müssen, Elena! Schon, als Tonia mir verraten hat, dass David Davidson groß, schlank, dunkelhaarig,
Weitere Kostenlose Bücher