Reif für die Insel
aufgequollen zu hellen Wolkenbergen, die sich in Minutenschnelle verdunkeln und herabsinken. Durch ein paar Wolkenlöcher sticht die Sonne, scharfe Strahlen, die unter dem |127| dunklen Himmel ein unwirkliches Licht entzünden. Aus der zarten Helligkeit ist grelles Leuchten geworden.
Die Kellner des Café Orth sehen in den Himmel und scheinen sich nicht aus der Nähe der aufgespannten Sonnenschirme entfernen zu wollen. Das Unwetter kann jeden Augenblick hereinbrechen. Die meisten Gäste haben schon ihre Geldbörsen gezückt, zahlen und machen sich auf den Heimweg.
Die Kellner sehen mich an, als erwarteten sie von mir das Gleiche. Wo Paul nur bleibt? Er war mit seinem Wagen dicht hinter mir, als wir nach Westerland fuhren. Auf der Suche nach einem Parkplatz in der Nähe der Friedrichstraße habe ich ihn dann aus den Augen verloren. Aber da jeder Sylt-Urlauber weiß, wie schwierig und langwierig die Suche nach einem Parkplatz in Westerland sein kann und wie unwahrscheinlich es ist, zwei Plätze nebeneinander zu finden, haben wir vorher verabredet, uns im Café Orth zu treffen.
»Sicher ist sicher«, hat Paul gesagt.
Kann sein, dass Elena mir später Vorwürfe machen wird, aber ich kann sie jetzt nicht anrufen, um ihr alles zu erzählen. Ich werde sie überhaupt nicht anrufen und ihr kein Wort davon verraten, dass ich Paul wiedergesehen habe. Sie würde mich nicht verstehen. Ich weiß, was sie sagen würde: »Wie kannst du mit ihm reden? Wie kannst du dich von ihm zum Kaffee einladen lassen? Hast du vergessen, dass er Werner auf dem Gewissen hat?«
Ich will jetzt nicht darüber mit Elena reden. Paul ist so … anders geworden. Ja, ganz anders. Aber man muss ihn gesehen haben, sonst versteht man es nicht. Dass er mit Uschi |128| verheiratet war, würde ich Elena allerdings schon gern erzählen. Und dass er ein attraktiver Mann geworden ist auch. Aber entweder alles oder nichts.
Nein, ich werde schweigen. Ich will mir von Elena nicht anhören, dass Paul ein Schuft ist, ich möchte ihn heute genauso wenig vor ihr verteidigen wie damals, als ich es gern getan hätte, jedoch zu feige war. Uschi hat es getan, aber Paul meint, dahinter hätte kein Mut gestanden, sondern eiskalte Berechnung. Er war sehr unglücklich mit ihr.
Es ist allerdings schade, dass ich mir nicht von der Seele reden kann, auf welche Weise wir uns wieder gesehen haben. Es war schrecklich, einfach nur schrecklich. Oder wie würde Elena es finden, wenn ihr ein Mann nach vierzig Jahren ausgerechnet am Nacktstrand wiederbegegnet? Man denke nur daran, wie schwierig es damals für uns war, plötzlich so zu tun, als wäre Nacktheit etwas ganz Normales! Keiner von uns hat es hingekriegt. Alle waren total verkrampft, selbst Elena. Aber in den sechziger Jahren durfte man ja nicht zugeben, dass einem die neue Freiheit Probleme bereitete. Man musste unbedingt neue Wege gehen wollen, musste die vorausgegangenen Generationen verachten und alles anders machen als sie. Weg mit der Prüderie, runter mit den Klamotten, ob man wollte oder nicht! Und eigentlich wollten wir alle nicht. Keiner von uns wollte nackt sein.
Und nun das Ganze noch einmal. Ja, ich war mindestens genauso verlegen wie vor vierzig Jahren. Nicht nur, weil ich in den letzten beiden Tagen ein Kilo zugenommen habe! Ein Kilo, man stelle sich das vor! Ausgerechnet! Ich darf mir gar nicht ausmalen, wie Paul meinen Körper in Erinnerung |129| hatte. Jedenfalls nicht so, wie er ihn heute zu Gesicht bekam. Es war furchtbar.
Warum konnten wir uns nicht in Kampen beim Shoppen treffen? Oder im Kliffkieker in Wenningstedt? Aber nein, ausgerechnet am Nacktstrand! Elena wird nie von mir erfahren, wie dumm ich mich benommen habe. Kein Wort werde ich darüber verlauten lassen, dass ich einfach ins Wasser gerannt bin. Was sollte ich sonst tun? Stehen bleiben und den Bauch einziehen? Über alte Zeiten plaudern, während Paul meine Orangenhaut betrachtet? Nie im Leben! Er hat mir einmal ein Gedicht gewidmet. Ich will nicht, dass er es bereut, nur weil vierzig Jahre vergangen sind! Eine schöne Erinnerung will ich für ihn bleiben – auch jetzt noch.
Nein, ich werde Elena nicht verraten, wie schlecht ich mich gefühlt habe, als wir da so plötzlich voreinander standen. Sie würde mir nur wieder erzählen, dass man zu seinem Körper stehen soll, dass wir Frauen uns viel zu sehr über das Äußere definieren und daran arbeiten sollen, das gleiche Selbstbewusstsein wie die Männer zu entwickeln. Die stehen zu ihren
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