Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
PROLOG
M anchmal, wenn am frühen Abend die Schatten länger wurden und die Ecken der Räume in Großmutter Hudsons Herrenhaus verdunkelten, vernahm ich leises Flüstern. Als ich hier angekommen war, hatte ich das noch nicht wahrgenommen, erst jetzt hörte ich es in zunehmendem Maße. Das Wispern klang wie Stimmen, die mich warnten – aber vor was?
Zu Hause in Washington hatte Mama schließlich die Wahrheit meiner Herkunft enthüllt: meine leibliche Mutter war eine reiche weiße Frau, die auf dem College schwanger geworden war von ihrem damaligen Freund, einem Schwarzen namens Larry Ward. Nachdem ich zur Welt gekommen war, hatte der Vater meiner leiblichen Mutter dafür gesorgt, dass ich bei Ken und Latisha Arnold lebte. Ken war gut dafür bezahlt worden. Ich wuchs auf in dem Glauben, Beni Arnold sei meine jüngere Schwester und Roy Arnold mein älterer Bruder.
Nachdem Beni von den Mitgliedern einer Gang ermordet worden war und Mama mir die Wahrheit über mich erzählt hatte, zwang sie meine richtige
Mutter Megan Randolph, sich mit uns zu treffen, und flehte sie an, mir aus dem Ghetto herauszuhelfen. Ich dachte, Mama versuchte, mich bei meiner wirklichen Familie unterzubringen, weil sie sich mehr Sorgen denn je machte über Drogen und Bandenkriminalität, aber es gab noch einen weiteren Grund, den ich erst viel später erfuhr. Mama starb an Krebs, und sie wollte mich in Sicherheit wissen und mir Möglichkeiten eröffnen, die sie selbst mir nie hätte bieten können.
Meine leibliche Mutter zögerte zunächst sehr und wollte Mama einfach mehr Geld geben. Sie sagte, es sei für alle eine denkbar ungünstige Zeit, weil ihr Ehemann eine politische Karriere anstrebte. Schließlich sorgte meine leibliche Mutter als Kompromisslösung, bei der meine wirkliche Identität verschwiegen wurde, dafür, dass ich bei ihrer verwitweten Mutter Frances Hudson leben konnte. Für den Rest der Welt galt dies als ein Akt der Wohltätigkeit: ein armes Mädchen mit Erfolg versprechenden Schulleistungen wurde aufgenommen. Reiche Leute engagierten sich bei so vielen karitativen Organisationen, dass eine weitere – tatsächliche oder fiktive – kein Problem darstellte.
Zu Anfang dachte ich, ich würde es nicht lange in dieser Welt aushalten, wo ich Dogwood, eine Privatschule, besuchte, auf der es von reichen Kids nur so wimmelte. Aber nicht, weil ich mich der schulischen Herausforderung nicht gewachsen sah. Trotz der schlechten Schule in Washington war ich immer
eine gute Schülerin gewesen und hatte viel gelesen. Und ich machte mir auch keine Sorgen darüber, schlecht behandelt zu werden. Keiner meiner snobistischen Mitschüler schaffte es, auf mich herabzusehen und durch Bemerkungen oder Blicke dafür zu sorgen, dass ich mich schlecht fühlte. Da hatte ich viel Schlimmeres durchgemacht.
Nein, was mir Sorgen bereitete, war meine Großmutter. Sie war eine strenge alte Dame, die gerne ihren Arzt, ihre Rechtsanwälte und Buchhalter belehrte und beschimpfte, und besonders Victoria, die jüngere Schwester meiner Mutter, die die Leitung des Familienunternehmens übernommen hatte. Großmutter Hudson und ich standen einander in den ersten Tagen und Wochen wie zwei Preisboxer gegenüber. Ich sträubte mich, sie mit einer einzigen versteckten Anspielung davonkommen zu lassen, einer einzigen hässlichen Bemerkung über mein Leben mit Mama, Roy und Beni und selbst mit meinem Adoptivvater Ken Arnold.
Obwohl wir in einem Projekt des sozialen Wohnungsbaus in Washington gelebt hatten, gab Mama ihre hochgesteckten Hoffnungen für uns alle nie auf. Sie wollte, dass ich eine gute Ausbildung bekam und etwas aus mir wurde. Ich war schließlich kein Mädchen aus den Slums, kein schlimmes Ghettogirl, und Großmutter Hudson sollte ihre Vorurteile nicht bestätigt sehen.
Das wurde ihr schnell klar. So schlossen wir bald einen Waffenstillstand und entwickelten nach einer
Weile sogar eine tiefe Zuneigung füreinander. Eines Tages erfuhr ich sogar, dass sie mich in ihrem Testament bedacht hatte. Das versetzte ihre jüngere Tochter Victoria in Rage, die die Wahrheit über mich erst herausfand, nachdem ich das Schuljahr in Dogwood fast beendet hatte. Sie wollte meine Mutter erpressen und sie zwingen, dafür zu sorgen, dass ich wieder aus dem Testament gestrichen wurde.
Ich vermutete, dies war der wirkliche Grund, warum mir die Gelegenheit geboten wurde, eine renommierte Schauspielschule in London zu besuchen. Das war nur eine Möglichkeit, mich loszuwerden,
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