Reif für die Insel
in Wirklichkeit Erschrecken gewesen war. Warum erschrak sie, wenn sie mich sah? Und warum dieser Blick, mit dem sie mich in Sekundenschnelle taxierte? So, als käme es darauf an, dass mein schwarzer Hosenanzug von schlechter Qualität war, und als hätte sie eine Niederlage erlitten, weil ich ein Designer-Modell trug. Was war ich froh, dass das alte hellblaue Kleid, das ich eigentlich anziehen wollte, einen Fleck am Ausschnitt hatte!
|121| Was machte Uschi im Alten Kursaal von Westerland? Sie sah ärgerlich aus, als Tonia Gefron schließlich auf die Bühne stieg und den Platz des Autors einnahm. Uschi neigte sich dicht an Raffaels Ohr, flüsterte ihm etwas zu und berührte dabei seinen Arm. Und er nickte zu allem, was sie sagte, legte mit einer besänftigenden Geste, die nur flüchtig, aber dennoch sehr intensiv war, eine Hand auf ihren Rücken. Alle Augen ruhten auf Tonia, außer mir sah vermutlich niemand den Blick, mit dem die beiden sich etwas sagten, was ausgesprochen weniger verräterisch gewesen wäre.
Das war der Augenblick, in dem der Gedanke in mir hochschoss! Ich war wie erstarrt, konnte mich nicht bewegen und hörte und sah nichts um mich herum. Raffael Sielmann! Ja, plötzlich passte alles zusammen. Unter dem Pseudonym David Davidson verbreitet er hohe Literatur, während er unter seinem eigenen Namen Zukunftsromane schreibt, von denen ein Schriftsteller normalerweise nicht leben kann. Auch der Gefron-Verlag wird mit diesen Romanen nicht reich, die Auflagen im Bereich Science-Fiction und Fantasy sind niedrig, die Verkaufszahlen gering. Trotzdem ist Raffael Sielmann das Angebot gemacht worden, ein Buch im Ferienhaus seiner Verleger zu vollenden. Ein weiteres Indiz? Sielmann scheint für den Gefron-Verlag wichtig zu sein.
Vermutlich haben die Verlegerin und ihr Autor überlegt, dass ein grandioser PR-Gag ihm den Platz auf den Bestsellerlisten sichern wird. Auch seine Zukunftsromane werden von da an besser laufen, wenn bekannt ist, dass sie von |122| einem Autor geschrieben werden, nach dem jeder Verleger sich die Finger leckt. Man wird also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen! Außerdem darf Sielmann sich mit der Insel Sylt aussöhnen, wenn ausgerechnet hier die Sensation perfekt wird, und seinem Jugendfreund, dem Besitzer der Badebuchhandlung, kann er eine Gefälligkeit erweisen, indem er ihm die Vermarktung der Lesung überlässt. Klar! So muss es sein!
»Und dann?«, fragte Elena. »Warum ist die Lesung geplatzt?«
An dieser Stelle wurde es schwierig. »Ich nehme an«, antwortete ich zögernd, »er hat Angst vor der eigenen Courage bekommen und im letzten Augenblick gekniffen.«
»Du meinst, er hat sich geweigert, die Bühne zu betreten? Ist einfach sitzen geblieben und hat sich nicht zu erkennen gegeben?«
»So muss es gewesen sein.«
»Und Uschi?«
»Sielmann und Uschi wirkten sehr vertraut. Zwischen den beiden läuft was, ganz sicher. Vielleicht hat Tonia sie rufen lassen, damit sie ihn zur Vernunft bringt. Eine Geliebte hat oft mehr Einfluss als die Ehefrau.«
Wenn es so war, dann war es ihr nicht gelungen. Tonia strich sich mit zitternder Hand die Haarsträhne aus dem Gesicht, als sie sich am Lesepult aufstellte. So ängstlich und verlegen hatte ich sie noch nie erlebt. Bei ihrem Anblick verlor sogar Johnny Gefron einen Teil seines Gleichmuts. Besorgt beobachtete er seine Frau, die er nicht anders als überlegen und souverän kannte.
|123| Damit war es jetzt vorbei. Tonias Kostümrock bebte, ihre Brust hob und senkte sich in besorgniserregendem Rhythmus, ihr linkes Auge raste über die Köpfe, ihr rechtes blieb unter ihrer Haarsträhne verborgen. Während sie sprach, strich sie kein einziges Mal die Strähne aus ihrem Gesicht.
»Sehr geehrtes Publikum, liebe Bewunderer von David Davidson! Es geht mir wie Ihnen. Ich warte auf den berühmten Schriftsteller, freue mich seit Wochen darauf, dass aus dem ›Autor ohne Gesicht‹ ein Mensch aus Fleisch und Blut wird. Aber …«
Dieses Aber erzeugte bereits heftige Unruhe im Zuschauerraum. Die Erklärungen wollte keiner hören, die Tatsache, dass David Davidson die angekündigte Lesung nicht halten würde, reichte den meisten.
»Du glaubst es nicht, Elena! Tonia wurde ausgepfiffen, beschimpft, sogar bedroht. Dabei konnte sie vermutlich gar nichts dafür.«
»Und Raffael Sielmann?«
»Der saß da, die Arme vor der Brust verschränkt, und tat so, als ginge ihn das alles nichts an. Er sah sich ganz ruhig an, wie Tonia ausbaden musste, was
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