Reifezeit
komplett aufgeblüht sind und dem Betrachter ihren bloßliegenden Stempel offenbaren. Der Luxus, den meine Mutter genießt, jawohl. Nichts zwingt diese Mama dazu, bei Eiseskälte auf der Straße zu stehen und zu betteln. Wenn man hingegen diese Frau dort ansieht. Arme, von den Jahren gebeugte Kreatur. Maßloses Mitleid für das Schicksal dieser Zigeunerin. Wer hatte die Unverfrorenheit, sie auf dem Bürgersteig abzustellen? Ich habe zehn Euro in der Tasche und drücke sie ihr diskret in die erwartungsvoll geöffnete Hand. Die Hand, die in einem Handschuh steckt, schließt sich unverzüglich um das erhaltene Geld. Und als die Frau das Geld in die Tasche schiebt, hat sie plötzlich aufgehört zu zittern.
In dem Moment bekomme ich auch ihr Gesicht zu sehen, trotz des Kopftuchs, unter dem es verborgen ist: Mein Gott, sie ist ja erst zwanzig. Das ist eine junge Frau, die sich einfach nur als alte Dame verkleidet hat, um die Passanten wirksamer dazu zu bewegen, ihr Portemonnaie zu öffnen. Ich weiß nicht, ob ihr bewusst ist, was sie da so schamlos mit Füßen tritt. Denn hinter ihren schützend gesenkten Wimpern, in ihren glasklaren grünen Augen lese ich nicht wie erwartet Provokation, sondern Dankbarkeit. Zehn Euro geben schließlich nur wenige Leute.
T elefonat mit einer Pflegerin. Es handelt sich um eine Frau, die man mir empfohlen hat anzurufen, mit der Begründung, dass sie eine vorbildliche Vertreterin ihres Fachs sei und, falls sie sich nicht selbst um meine Mutter kümmern, mich zumindest an eine Kollegin weiterverweisen könne. Doch sie hat keine Kollegin. Wie das bei vorbildlichen Vertretern eines Fachs oft so ist, ist sie unersetzlich und allein auf weiter Flur. Sie heißt Yvonne. Sie bekniet die offiziellen Stellen, ihr die Genehmigung zur Ausbildung von Pflegehelferinnen zu erteilen, was ihr jedoch verweigert wird, da dies im Rahmen der aktuellen Gesetzgebung nicht möglich ist. Sie erklärt mir: »Intimpflege möchte schon mal von vornherein keiner machen. Ich habe damit hingegen seit zwanzig Jahren Erfahrung. Ich könnte einer Anfängerin gut zeigen, was das bedeutet, einen Körper, der nicht mehr so recht mitspielt, zu berühren; ich verstünde es, den Betreffenden klarzumachen, dass jemanden pflegen bedeutet, jemanden pfleglich zu behandeln. Ich habe etwas zu vermitteln. Glauben Sie mir, oder glauben Sie mir nicht, aber ich weiß um die Geheimnisse der menschlichen Würde. Ich packe nicht grob zu, sondern bei mir sitzt jeder Handgriff. Meine Worte bestehen darin, dass ich denen, die noch zu sprechen vermögen, zuhöre.« Sie ist zu achtundzwanzig Einsätzen am Tag unterwegs und das über drei verschiedene Pariser Arrondissements verteilt. Von der Pflege, die sie leistet, hängen Leben ab. Sie ist siebenundfünfzig Jahre alt. Augenblicklich kann sie mit mir sprechen, denn sie ist auf der Straße, läuft zu ihrem Auto zurück. Als sie gerade mitten dabei ist, mir auseinanderzusetzen, wie die behördliche Unterstützung funktioniert, und mir deren verzwickte Beschränkungen zu erklären, entfährt ihr ein Fluch: Sie hat ein Knöllchen , der Äskulapstab ist für die Kontrolleure kein Hindernis. Sie bekommt fast jede Woche einen Bußgeldbescheid, denn sie hat keine Zeit, einen ordnungsgemäßen Parkplatz zu suchen. Wenn es einen gibt, nimmt sie ihn selbstverständlich. Doch das ist selten. Manchmal trifft sie auch den Polizeibeamten genau in dem Moment an, in dem er den Strafzettel ausfüllt, wenn sie zu ihrem Wagen zurückkehrt. Doch sie hat es sich abgewöhnt zu diskutieren. Sie gesteht mir: »Ich stecke meine Energie in andere Dinge.« Ein Mal, ein einziges Mal, und das auch nur, weil es sich um eine weibliche Polizeibeamtin handelte, bei der sie auf mehr Mitgefühl zu stoßen hoffte, wagte sie, auf den Äskulapstab zu verweisen. Die Frau warf nur einen flüchtigen Blick darauf und erwiderte: »Da machen Sie es sich ein bisschen zu einfach.«
E s war eine dieser speziellen Adressen, an denen man sie notdürftig wieder zusammenflickt, nachdem sie gestürzt sind. Man hatte mir erzählt, dass die Behandlungen, die man in dieser Art Kliniken erhielt, abgesehen davon, dass keiner, der eines Tages wieder laufen können will, um sie herumkommt, Erstaunliches bewirken würden. Was absolut der Wahrheit entspricht. Doch als ich dort eintraf, um meine körperlich labile Mama einzuquartieren, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein Aufenthalt in einem solchen Siechenhaus sie wieder auf die Beine
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