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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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Erste. »Ja, den Ausgang«, bestätigte die Zweite.
    »Geh doch mal nachsehen«, forderte meine Mutter mich auf. Ich ging also nachsehen. Und war kaum auf dem Flur draußen, als ich auch schon den beiden Frauen in die Arme lief. Sie waren hochbetagt. Die eine trug ein altmodisches, zerschlissenes Gepäckstück bei sich, das einen allein schon erbarmte. Die andere hatte keine Hand frei, um etwas zu tragen, sie war mit einem Rollator unterwegs. Alle beide mit wild zerzaustem Haar. Diejenige, die die Tasche in der Hand hielt, winkte mich heran, indem sie den Arm samt Tasche in die Höhe hob. Ich konnte erkennen, dass die Tasche feder leicht war, und schloss daraus, dass nichts darin war. Sie wandte sich in ausgesucht höflichem Ton an mich: »Ach, gnädige Frau, Sie schickt der Himmel. Ob Sie wohl so außerordentlich liebenswürdig wären, uns den Ausgang zu zeigen?« Ich entgegnete, dass man doch hier gut aufgehoben sei und gar nicht aus dem Haus gehen müsse. Ich verfiel in den sanften, schelmischen Tonfall, den ich mir von den Pflegehelferinnen abgeschaut hatte. Dann kehrte ich in das Zimmer meiner Mutter zurück. Sie folgten mir. Meine Mutter sah die beiden Frauen in ihr Reich eindringen, versuchte, die Tragweite dieser Intrusion einzuschätzen, die für sie eine inak­ zeptable Grenzüberschreitung darstellte. Gänzlich schutz los ausgeliefert, die Hand auf dem Klingelknopf, ohne sich ­allerdings dazu durchringen zu können, die beiden zu denun zieren, wartete sie darauf, dass diese Frauen von alleine ­erkannten, dass sie hier nicht zum Ausgang gelangten, und kehrtmachten. Was auch geschah.
    Sobald sie in sicherer Entfernung waren – ihre Stimmen, die schon kurz darauf nur noch gedämpft zu hören waren, waren für uns die Bestätigung, dass sie von dannen zogen, um in einem anderen Flur ihr Unwesen zu treiben –, konnte meine Mutter endlich ihre wachsame Haltung aufgeben und sich entspannen. Ihr Kopf war ermattet in die Kissen zurückgesunken, die Miene undurchdringlich ohne den leisesten Hauch eines Lächelns, aber dann blitzte darin doch ein Hoffnungsfunke auf: »Schreib es auf«, sagte sie zu mir. Als verfügte ausgerechnet ich mit meiner Kunst über die am stärksten benötigte, von der größten Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit durchdrungene und vor allem nützlichste aller Fähigkeiten.

A ngesichts der Verfassung meiner Mutter habe ich mir seit einigen Jahren angewöhnt, in letzter Minute auf eine Abendessenseinladung oder aufs Ausgehen zu verzichten. Ich schicke eine SMS , in der ich mein Bedauern darüber ausdrücke, dass ich nicht kann, und vage andeute, dass ich aufgrund einer Verpflichtung an anderer Stelle verhindert bin. Was nicht unrichtig ist.
    Genau das hatte ich auch an jenem Abend getan, nachdem meine Hemmungen abzusagen bereits durch das Wesen der Gastgeberin selbst zerstreut worden waren, einer irrsinnig aufgestylten Person, die mit Gott und der Welt bekannt war, dazu ungeheuer reich, charmant und bezaubernd schön und folglich entsprechend umschwärmt und umworben. Es wären jede Menge Leute um sie herum, und meine Abwesenheit fiele gar nicht weiter auf. Ich hatte in meiner SMS sogar eine genauere Begründung angegeben, nämlich dass meine Mutter erneut gestürzt sei. Und rechnete nicht mit dem Anruf, den ich am Tag darauf von ebenjener Modepuppe erhielt. Ich muss vielleicht das Aussehen dieser Frau beschreiben. Eine aufwendig zurechtgemachte Erscheinung, in verzweifeltem, wenngleich ziemlich erfolgreichem Kampf darum begriffen, an die zwanzig Jahre jünger zu wirken. Ein Geschöpf, das in seinem eigenen Film lebte und sich in einem Maße in seine Rolle hineinsteigerte, in dem es, abgesehen von einigen Stars, keiner auf die Spitze zu treiben wagte (denn im wahren ­Leben wird man schnell auf den Boden der Realität zurückgeholt). Zugleich war sie aber ungeachtet ihres Bekanntheitsgrades eine weichherzige Frau und treue Freundin. Wie dem auch sei, diese Frau war jedenfalls Welten von der Greisenhaftigkeit und dem Verfall meiner Mutter entfernt. ­Neben der glanzvollen Ausstrahlung dieser Freundin wirkte das Alter meiner Mutter auf mich wie ein Beweis für die Farblosigkeit unserer Familie oder, schlimmer noch, einen Mangel an Savoir-vivre.
    Diese Frau ruft mich also am Morgen nach der Einladung an und sagt: »Du hast uns gefehlt gestern Abend! Es war wahn­ sinnig lustig, wir haben so gelacht! Ja, manche Abende sind derart amüsant, das kann man im Nachhinein gar nicht so recht

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