Reifezeit
Bruder sie dann zurück, und sie hatte frische Kräfte getankt. Unter all den Entsagungen, von denen wir unsere liebe, be geisterungsfähige Mutter überzeugen mussten, war diejenige, die ich ihr am schonendsten beizubringen versuchte und die mir die heftigsten Bauchschmerzen bereitete, der Verzicht auf jene Sommer, die ihr fortan verwehrt sein würden, weil sie schlicht nicht mehr in Betracht kamen. Sie hatte weiter die tropische Hitze, die balsamische Wirkung des französischen Südens vor Augen, dank der sich ihre Verspannungen lösten, aber leider wäre Südfrankreich im Hochsommer nun gefährlich für sie gewesen. Natürlich machte sie sich dies nicht klar. Oder sie wollte es nicht wahrhaben. Sie, ja, sie glaubte, sie könne sich ganz relaxed in einem Liegestuhl zurücklehnen, sich mit Ambre Solaire einschmieren und lauthals verkünden: »Ahhh … die Sonne! Es gibt doch nichts Schöneres!«, wobei sie die Lider niederschlug, um nicht geblendet zu werden. Aber die letzten Ferien im Süden verliefen alles andere als glorreich. Einmal stürzte sie am Spätnachmittag vor ihrem Domizil, am Golf von Sainte-Maxime, und das, obwohl sie in meiner Begleitung war. Aber sie war einfach nach einem Tag am Pool beflügelt von der Freude über ihre Enkelkinder, voll des Entzückens über eine neue, blassrosa Tunika, erstanden auf dem Markt von Saint-Tro pez (von mir, für sie), berauscht vom Duft der Lorbeerbäume und hatte ihre Unbekümmertheit wiedergefunden, sodass sie plötzlich sowohl meinen Arm als auch ihren Krückstock losließ, um mir zu demonstrieren, wie gut sie wieder bei Kräften war.
Wie schnell ein Körper, noch eh man sichs versieht, auf einen Teppich aus welken Lorbeerblättern fällt, einen Teppich, der weder die Tragik des Sturzes noch die glühende Hitze des Teers um fünf Uhr an einem Sommernachmittag auch nur im Geringsten abmildert. Und wie schnell wir alle den Ernst der Lage begreifen, denn statt ihre Fassungslosigkeit darüber kundzutun, dass sie plötzlich auf dem Boden liegt, verharrt sie, einmal gestürzt, beunruhigend lange reglos und schlittert gleichsam noch weiter in die Tiefe, auf einen bedrohlichen Abgrund zu (sie hat sich ein Bein gebrochen und auf der anderen Seite den Fuß verstaucht). Wie schnell der Rettungsdienst eintrifft und einem die Entscheidung abnimmt. Der ungleichmäßige Pulsschlag. Man kann nicht mehr sagen: »Ach, das ist nichts.« Nichts, das ist allenfalls das, wozu sie zu werden droht. Wie schnell der Kranken wagen die Küstenstraße entlangrast, auf der doch der Verkehr durch die typischen sommerlichen Staus lahmgelegt ist; aber nein, wir, die in erschütternder Weise Privilegierten, schlängeln uns durch. Die Sirene treibt alles, was zwei Beine hat, dazu an, Platz zu machen. Wie schnell man trotz allem zu der beruhigenden Einsicht gelangt, dass man über Sonderrechte verfügt. Wie schnell ich mich in der Notaufnahme wiederfinde, wo ich, routiniert wie ich inzwischen bin, bereits die Papiere in der Hand halte, während meine Mutter abtransportiert wird und hinter einer Flügeltür verschwin det.
Und wie langsam anschließend alles vor sich geht. Das Warten darauf, dass einem offiziell die Brüche und Haarrisse bescheinigt werden. Ich rief so viele Freunde von meiner Bank draußen aus an, dass nach zwei Stunden der Akku meines Handys leer war.
Mir blieb nichts anderes mehr, als allein, umgeben vom Zirpen der letzten Grillen, dazusitzen und zu warten, dass mein Name aufgerufen würde.
S ie reiste im Krankenwagen in Richtung Paris zurück. Man brachte sie in die nähere Umgebung, in eines der Rehazentren, die ich bereits geschildert habe. Ich würde die Fahrt mit dem eigenen Wagen antreten. Meine Mutter hatte allerdings ihre eigenen Vorstellungen bezüglich meiner Rückkehr. »Ich will dich dort nicht sehen bei meiner Ankunft«, erklärte sie mir im Befehlston, das Gesicht seitlich gegen die Taille einer Pflegehelferin gepresst, während diese sie versorgte. Und mir war es schlicht unmöglich, ja, es war mir unmöglich, mir sagen zu müssen, dass ich zu der Sorte Tochter zähle, die einfach weiter ihre freie Zeit genießt, während um sie herum alles drunter und drüber geht. Ich suchte nach einem ausgewogenen Mittelweg zwischen Mich-Drücken und Ihr-Folgen. Es waren meine Ferien. Doch noch während ich dies dachte, sagte ich mir: »Es sind auch die ihren, und sieh mal …« Der Krankenwagen setzte sich in Bewegung, und ich brach ebenfalls auf. Ich hatte
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