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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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geschworen, sie dort, wo sie hinkam, nicht in Empfang zu nehmen und vorsichtig zu fahren. Ich gedachte, bei Freunden nördlich von Apt Station zu machen. Während ich durch die Berge in Richtung La Garde-Freinet unterwegs war, gab es ein schreckliches Gewitter, eines von der Sorte, die man im ­Süden »Gewitter des 15. August« nennt. Der Regen troff rundum herunter, und das war für mich ein willkommener Anlass, meinen Tränen beim Fahren freien Lauf zu lassen und über meine zerbrechliche Mama zu weinen, über einen Mann, den ich nicht um Hilfe bitten konnte, über das, was geschähe, falls ich in diesen gottverlassenen Schluchten krepieren sollte – ich dachte an meine Reifen: Einen unerträg­lichen Schmerz verteilt man gern auf verschiedene Schauplätze.
    Am Tag darauf erfuhr ich, dass meine Mutter gut untergebracht war. Sie schärfte mir abermals ein: »Dass du mir vor allem nicht herkommst! Ich brauche nichts, und ich habe ­einen unglaublichen Park mit Hügeln vor dem Haus, wie du noch sehen wirst.« Doch die Leute von der Aufnahme riefen mich an, um mir eine Liste mit Dingen zu diktieren, die ich bringen sollte, sobald ich könnte: Seife, Handtücher, Waschlappen, Morgenmäntel und Nachthemden. Es kam mich verdammt hart an, aber ich beschloss, erst am Tag darauf ­abzureisen. Ich verbrachte den Tag in den Liegestühlen rund ums Haus, indem ich vom Schatten einer Linde in den der Kirschbäume weiterzog. Die aufbauenden Gespräche mit den Freunden. Die wohltuende Ruhe, die ich in vollen Zügen einsog, da ich dort nicht mehr zum Luftholen kommen würde. Für einige Stunden tauchte ich in eine Welt ab, in der man sämtliche Sorgen vergessen konnte. Meine Freundin, die mir bei meiner Abfahrt die Hand auf die Stirn legte: »Deine Mutter gibt noch. Also nimm!« Sie hatte mir das ­bereits zuvor, am Nachmittag, gesagt, unter einem aus­gemergelten alten Aprikosenbaum. Er trug immer noch unglaub­liche Früchte.

D as Hotel Flaubert in Trouville, direkt an der holzbeplankten Promenade oberhalb des Strandes gelegen. Ich hatte ein Zimmer »mit Meerblick« in der ersten Etage ­gebucht. Fünfzehn Augustmittage bei gleißender Hitze: meine Mutter im King-Size-Bett, ich in einem kleineren Bett, das in einem ­Nebenraum aufgestellt worden war. Am Abend dauerte es so lange, bis die Sonne im Meer versunken war, dass es einem wie ein weiterer, künftigen Generationen stibitzter Tag erschien. Meine Mutter verfolgte über Stunden hinweg aufmerksam, was am Strand vor sich ging. Sie staunte, welche Schwärme von Möwen herbeigeflogen kamen. Fand das großartig, all diese fremdländischen Familien, Asiaten, Inder … und ein Frankreich, das allen Unterschlupf bot. Sie fand, dass die Leute zu viel aßen – Crêpes, Beignets, Waffeln, Muscheln, Fritten, Soßen und all so ein Zeug. Neben dem Blick aufs Meer hatte sie auch freien Blick auf die Restaurantterrasse ­unten. Sie freute sich wie ein Schneekönig über all die Ablenkungen. Ihre Zunge, die zwischen den Lippen he­rausspitzte, verriet, wie munter und vergnügt sie war: Ich hatte sie trotz ihres Zustandes in den Urlaub MITGENOMMEN . Kein Tag verging, an dem sie nicht picknicken wollte, statt eine normale Mahlzeit zu sich zu nehmen, so sehr ­bedeutete es Aufbruch und Abenteuer, die Möglichkeit dazu hier direkt vor der Nase zu haben.
    Morgens kniete ich im Bad nieder, um ihr bei der Toilette zur Hand zu gehen. Es war sehr schwierig, zu dieser Jahreszeit irgendwo eine Hilfskraft herzubekommen. Den Kopf in höchster Verlegenheit zu mir oder, genauer, in Richtung ­Boden gesenkt, wiederholte sie: »Es ist scheußlich, alt zu werden … Ja, es ist scheußlich, alt zu werden …« Keinerlei Pathos, sie war einfach nur aufrichtig genervt. Ich versuchte, ihre Skrupel zu zerstreuen. »Hast du das nicht für deine Kinder gemacht, sie zu waschen?« Schweigen dort über mir, sie erwiderte nichts. Ich fuhr fort mit dem, was zu tun war. Nach einer Weile hörte ich: »Das ist lieb von dir, dass du mir das sagst …«
    An ihrem Rollator eingekrallt, bewegte sie sich in ihrem eigenen Tempo wieder zu ihrem Sessel mit Meerblick zurück. Ich wagte den Versuch, sie ohne meine Unterstützung gehen zu lassen, spitzte jedoch die Ohren, denn sie konnte jede Sekunde zusammensacken. Ein dumpfes Geräusch war zu hören, und ich war beruhigt: Es war ihr Rücken, der gegen die Polster sank.
    Ich machte es mir in meinem schmalen Bett gemütlich, um die Romantrilogie Moskauer Saga von Wassili Aksjonow

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