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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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weiterzulesen. Eintausendundsiebenhundert Seiten. Ich hatte bewusst einen dicken Wälzer für Leerlaufzeiten mitgenommen. Plötzlich begann sie vor sich hin zu plappern: »Ach, wie herrlich es doch ist, glücklich zu sein. Wäre das nicht der passende Moment für ein Gläschen Rosé?« Ich befand mich gerade mit meinen Freunden im Gulag. Sie hatten soeben ­einen Theaterclub gegründet, und kein totalitäres System könnte diese gebildeten Menschen seelisch zugrunde richten; doch wir mussten hart kämpfen, denn es wurde einem nichts geschenkt. Mit einem Satz war ich auf den Füßen und bei ihr im Zimmer: »Aber Mama, es ist elf Uhr vormittags!«
    Sie saß vor den großen Fenstern und schwebte im siebten Himmel, voll des Glücks über diese Sommerfrische, meine Gegenwart, ihre Enkelkinder, die auf dem Weg zum Strand vorbeikommen würden, das unverhoffte Azurblau des Himmels, ihren Nacken, der kurz zuvor parfümiert worden war, ebenso wie ihre Ellenbeugen, an denen sie nun schnupperte; glücklich über ihren Kamm und ihr Ambre Solaire, ihre zunehmend gebräunte Haut, die Tüte Chips mit Senfaroma, die sie bereits in der Hand hielt.
    Nun ja, was tat ich wohl? Ich ließ den Gulag Gulag sein und kredenzte den Rosé.

D ie vielen Male, die sie sich gegen Ende meines Nachmittagsbesuches höchst interessiert danach erkundigt, was ich noch vorhabe, wenn ich von ihr wegfahre. Ob ich noch ausgehen werde. Die Heftigkeit, mit der sie mir die ­Leviten liest, sie, die angeblich so Geschwächte, falls ich ihr, statt ihr meine Pläne für den Abend in berauschenden Farben und bis ins letzte Detail zu schildern, ermattet antworte, dass es mich nicht danach gelüstet, mich zu amüsieren. ­Jawohl, es kommt durchaus vor, dass ich nicht mehr kann. Dass mein Teint blass und blutleer ist. Sie hasst das. Ich hingegen denke mir: Ist es wirklich so abwegig, Winterschlaf zu halten während des langen Winters, den der andere durchlebt? Sie hingegen mustert mich geringschätzig, bebend vor Missbilligung. Nichts ist ihr so tief zuwider wie die Opfer, die ich erbringe. Und ich reibe ihr diese an manchen Tagen so richtig unter die Nase, ich, ja ich beklage mich. Zahle ich ihr etwas heim, indem ich mir meine Erschöpfung so deutlich anmerken lasse? Stimmt es am Ende, dass unserer Güte immer auch eine gewisse Grausamkeit innewohnt? Auf alle Fälle lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie stützt sich auf beide Ellbogen. Und sobald sie diese Geste macht, ist ihr Alter vergessen, sie wird mit einem Satz auf mich zuschießen, wird fünf Zentimeter vor meinem Körper innehalten, so wie sie es tat, als ich noch ein Kind war und sie mir ihre Überlegenheit demonstrieren wollte. Ich brauche eine Weile, um zu begreifen, dass sie nicht mehr auf mich zuspringen wird. Obwohl. Was sind diese Worte meiner über meine mangelnde Antriebskraft entrüsteten Mutter, die ich hier im O-Ton wiedergebe, anderes als Ausdruck blanker Macht: »Wie, du gehst nicht mehr aus? Und wieso das, wenn man fragen darf?« – »Wenn du nicht mir zum Trotz lebst, wie willst du mich dann bitte schön überleben?« – »Ich rate dir nur eines, sobald du hier draußen bist: mal ein paar Stunden zu vergessen, dass es mich überhaupt gibt.« – »Geh weiter unter die Leute, sonst wirst du sie einen nach dem anderen verlieren: Man wird dich nicht auf ein Podest heben, weil du das menschliche Elend entdeckt hast.« – »Sag mal, du wirst doch nicht ausgerechnet jetzt das Interesse am Leben verlieren, wo deine Mutter seinen Wert erkennt?« – »Und was ist mit den Männern, gibt’s da nichts Neues zu vermelden?«

S ie vergisst, dass ich gekommen bin. Aber sie vergisst nie zu fragen, wo die saftigen Oliven sind, die ich ihr versprochen habe. Es ist einfach so, dass ich nicht immer daran denke, noch bei der armenischen Lebensmittelhandlung vorbeizufahren, einem Geschäft, das überhaupt nicht in meinem Einzugsbereich liegt und in dem, was die Sache kein bisschen besser macht, die beiden Angestellten in etwa das Alter meiner Mutter haben. Sie brauchen so endlos lange, um einem eine Handvoll Oliven abzufüllen, dass sie einen zur Verzweiflung bringen. Die Arbeit strengt sie an. Sobald man sagt, was man will, stoßen sie erst einmal einen Seufzer aus. Sie sind Brüder, sie ähneln sich. Falls der Käufer vor ­einem ein alter Stammkunde ist, kann man getrost den halben Nachmittag für seinen Einkauf dort einkalkulieren. Der altmodische Herr an der Kasse schenkt mir eingelegte Feigen,

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