Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Geboren werden: ganz neu und ganz verletzlich sein
Die Weihnachtsgeschichten der Bibel faszinieren. Auch heute noch rühren sie alljährlich unzählige Menschen an, ob sie nun zur Kirche gehören oder nicht. Selbst wer die Bibel niemals zur Hand nimmt und in ihr liest, hat von den Ereignissen rund um die Krippe wahrscheinlich schon gehört. Zwar leeren sich die Kirchen in Mitteleuropa, aber an Weihnachten füllen sich ihre Räume. Woher kommt diese faszinierende Kraft?
Die wichtigste Rolle spielt hierbei das neu geborene Kind, um das sich an Weihnachten alles dreht. Neugeborene haben etwas Anrührendes. Sie sind so winzig, schutzbedürftig und verletzlich – und zugleich voller Wärme, Zukunft und Lebendigkeit. Gerade erst zur Welt gekommen, ist ihr Leben noch ganz unverbraucht. Alle Chancen auf Wachstum, Erblühen und Neubeginn liegen vor ihnen. Sie wecken Hoffnung und zaubern ein Lächeln ins Gesicht. Denn alles fängt neu an. Mit jeder Geburt erneuert sich das Leben.
Zugleich zeigt jedes Neugeborene, wie ungeheuer verletzlich das Leben ist. Bei Zeugung, Schwangerschaft und Geburt kann so schnell etwas schiefgehen. Unzählige Kinder sterben schon vor der Geburt oder überleben nur wenige Tage. Nicht jedes Kind wird freudig begrüßt, wenn es zur Welt kommt. Viele werden vernachlässigt und bekommen nicht das, was sie zum Leben brauchen. Und wie hilfsbedürftig diese Winzlinge sind! Ohne die tatkräftige Zuwendung anderer Menschen stirbt ein Säugling in kürzester Zeit. Selbst wenn ein Glas Wasserdirekt neben ihm steht, wird es verdursten, wenn niemand ihm dieses Wasser reicht.
Auch Jesus, das Kind in der Krippe, ist verwundbar. Es kann sich nicht selbst schützen vor den Unbilden des Wetters, vor dem gefährlichen Angriff wilder Tiere oder vor der Gewaltsamkeit anderer Menschen. Es zeichnet das aus, was die Wissenschaften heute »hohe Verwundbarkeit« nennen. Um leben zu können, braucht das Kind den Schutz, die Unterstützung und die hingebungsvolle Zuwendung anderer Menschen. Hiervon erzählen die Weihnachtsgeschichten. Sie führen die Verletzlichkeit des neu geborenen Lebens vor Augen – und die verblüffende Bereitschaft von Menschen, diesem Kind bedingungslos Schutz, Zuwendung und Liebe zu schenken.
Da sind Maria und Josef, die sogar ihr eigenes Leben riskieren, um Jesus den Aufbruch ins Leben zu ermöglichen. Ähnlich verhalten sich die Sterndeuter, die aus einem fernen Land auf gefährlichen Wegen nach Betlehem kommen. Auch die armseligen Hirtinnen und Hirten tragen dazu bei, dass das neue Leben Fuß fassen kann. Bereitwillig verschenken diese Menschen das, was ihnen zur Verfügung steht. Sie tragen zu einer Kultur des Teilens bei, die Leben eröffnet.
Aber nicht nur die Menschen reagieren an Weihnachten auf ihre Verwundbarkeit. In dem neugeborenen Kind kommt Gott zur Welt, so sagt es der christliche Glaube. Gott wird geboren als Mensch. Damit stellt er sich jener Verwundbarkeit, der alle Menschen ausgesetzt sind. Dies ist ein Wagnis. Gott schafft nicht nur eine äußerst zerbrechliche Welt – und überlässt sie dann ihrem Schicksal. Sondern in Jesus Christus stellt sich Gott selbst der Verwundbarkeit. Und das aus freien Stücken. Die Geburtals Mensch aus Fleisch und Blut macht Jesus verletzlich. Das zeigt bereits das Neugeborene in der Krippe. Und Jesus wird tatsächlich verwundet, wird gemartert und gekreuzigt bis in den Tod.
Die Weihnachtsgeschichten sind ein Lehrstück darüber, wie Menschen mit der Tatsache umgehen, dass sie verletzlich sind – sie selbst und die Anderen, mit denen sie zu tun haben. Diejenigen, die sich hingebungsvoll dem Neugeborenen widmen und sich damit verwundbar machen, spiegeln das, was Gott in der Menschwerdung tut. Sie werden Mensch, indem sie Hingabe wagen. Aber man kann auch ganz anders reagieren. Das zeigen der König Herodes, der das Neugeborene töten will, und die Menschen in der Herberge, die nicht zum Teilen bereit sind.
Wenn man den Blick auf die Frage richtet, wie Menschen mit ihrer Verwundbarkeit umgehen, dann verlieren die biblischen Geschichten ihre ganze scheinbare Naivität. Die Krippe ist keine Idylle, keine Utopie einer heilen Familie mit schmückenden Accessoires wie sanftmütigen Hirten, jubilierenden Engeln, wunderschönen Frauen und reich geschmückten Königen. Vielmehr erzählen sie ergreifende Geschichten darüber, wie Gott und die Menschen mit der Verletzlichkeit humanen Lebens umgehen.
Das Weihnachtsfest macht »Verwundbarkeit« zum
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