Reifezeit
Mal, dass ich einen so alten Menschen an diesem Ort einen Computer benutzen sah. Er bemerkte mein Interesse. »Kommen Sie doch herein …«, forderte er mich auf. Ich wagte mich in sein Zimmer hinein, nicht ohne mich zu fragen, ob ich überhaupt das Recht dazu hatte. Auf seinem Bett lag eine karierte Tagesdecke. »Der Stoff stammt aus Indien«, erklärte er mir. Und fügte schmunzelnd hinzu: »Ich wollte diesem Raum einen persönlichen Touch verleihen.« Aus seiner Art zu reden ging für mich hervor, dass er gewohnt war, mit Sprache umzugehen. »Weshalb sind Sie denn hier?«, fragte ich, als hätten Leute seines Schlages hier nichts verloren. »Ich habe mir beide Beine gebrochen, als ich von der Arbeit kam. Ein Auto, das ich nicht gesehen habe. Aber hier sind schließlich alle irgendwie angeknackst, das können Sie sich ja denken.« Und ich: »Als Sie von der Arbeit kamen?«, denn dieser Mann wirkte älter als meine Mutter. Darauf er: »Ich bin Psychoanalytiker, bin allerdings schon neunzig Jahre alt. Viel interessanter ist aber eigentlich die Frage, was Sie hier machen, finden Sie nicht?« Ich erklärte, dass ich meiner Mut ter wegen hier sei und dass diese im Zimmer nebenan liege. »Und was hält Ihre Mutter von dieser Einrichtung?«, erkundigte er sich. Ich erwiderte: »Dass dies der Ort ist, an den man sich begibt, wenn man keine andere Wahl hat.« Ich stand einige Meter von ihm entfernt. Jetzt, da wir uns miteinander unterhielten, nahm ich den gut aussehenden Mann deutlicher wahr, der sich unter den Falten, dem struppigen Haar, den Pantoffeln, dem leicht verwahrlost wirkenden, schlampig zugebundenen Morgenmantel verbarg. »Es ist verrückt, wie häufig man die Wahl hat«, erwiderte er mir, »und am Ende nutzt man die Gelegenheit nicht. Wissen Sie, meine Patienten wären fast alle in der Lage, einen Schritt nach vorne zu tun. Nein, wirklich, hier wird mir das erst richtig klar: Sie haben die Wahl, was man von mir hier, an diesem Ort nicht behaupten kann. Aber meinen Sie, das würde ih nen dabei helfen, sich weiterzuentwickeln? Nein, sie befreien sich auch weiterhin nicht aus den Fesseln einer nicht funktionierenden Paarbeziehung, oder sie sind auf einer früheren Stufe stehengeblieben und kommen einfach nicht über die ödipale Phase hinaus, oder was weiß ich noch alles. Statt positive Gefühle zu nähren, verzehren sie sich in unendlichem Groll. Sie sind an einem Punkt angelangt, an dem sie ihre Wut als Fortschritt ansehen. Und dabei haben sie die Wahl, die ganze Zeit über. Ah, wenn ich die Arbeit wiederaufnehme, werde ich hart ins Gericht gehen mit diesen Verwünschten da draußen!« Ich halte dagegen: »Aber sind nicht jedem gewisse Grenzen gesetzt?« Er klappt unsanft den De ckel seines Notebooks zu. »Nein, hier ist der Ort, an dem dem Handeln wirklich Grenzen gesetzt sind.«
Ich berichte meiner Mutter, dass neben ihr ein ganz außergewöhnlicher Psychoanalytiker liegt. Voller Argwohn schielt sie zu mir hinüber – um mich von der Idee abzubringen, falls ich sie denn hegen sollte, sie beim Psychologen abzuliefern. Und das alles nur, weil sie alt ist, ein ganz natürliches Schicksal.
E in Freund sagt zu mir: »Wenn ich mal alt bin, hätte ich gerne, dass man mir eine Spritze verpasst.« Er hat auch eine Vorstellung davon, wie seine tief empfundene Erkenntnis für die Menschheit nutzbar gemacht werden könnte: »Sie müssten alle eine Spritze neben ihrem Bett liegen haben, auf dem Tisch, weißt du, neben ihrem Telefon, ihrem Radio, ihrer Box mit Papiertüchern, ihren beiden Brillen. Sie könnten selbst entscheiden und müssten sich nicht dazu erniedrigen, darum zu bitten.« Er kehrt schockiert von einem Besuch bei seiner Mama zurück, die im Krankenhaus liegt: »Stell dir bloß vor, die Fenster im Krankenhaus lassen sich nicht öffnen. Sie haben die Griffe abmontiert. Ich habe mich erkundigt, was das soll, und weißt du, was man mir geantwortet hat? Das mache man, um zu verhüten, dass sie sich aus dem Fenster hinausstürzen! Scheiße noch mal, wenigstens das könnte man ihnen doch lassen, findest du nicht? Wenn es das ist, wonach ihnen der Sinn steht … Das ist doch schließlich ihre Entscheidung, man darf sie doch nicht dazu zwingen weiterzuleben. Also wirklich, das wäre der absolute Horror für mich, dass man mir vorschreibt, was ich zu tun und zu lassen habe.«
Was ich gelernt habe: Ein alter Mensch, der sterben will, stirbt auch. Und der Mensch entscheidet in der Tat selbst
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