Reigen des Todes
waren bereits vor Jahren verstorben und ihr einziger Bruder diente als Soldat im fernen Galizien.
Die Schmoll’sche Mietwohnung lag im dritten Stock eines Hinterhoftraktes in der Kettenbrückengasse. In Mama Schmolls Reich herrschte peinliche Ordnung und Sauberkeit. Dazu gehörte unter anderem auch, dass die Wohnung nach dem Frühstück zusammengeräumt und danach den ganzen Tag über nicht benutzt wurde. Diese Regel ergab sich aus den Tagesabläufen der beiden Schmoll’schen Frauen – die Mutter verdiente ihr Geld als Wäscherin. Und da Mama Schmoll es hasste, fixe Abläufe zu verändern, musste auch Steffi Moravec in der Früh die Wohnung verlassen. Gleich nach dem kargen Frühstück, das aus Zichorienkaffee und einem trockenen Stück Erdäpfelbrot 30 bestand. Davor musste sie den beiden Frauen aber noch beim Aufräumen helfen. Abends durfte sie ab sechs Uhr wieder in die Wohnung kommen. Da war Mama Schmoll bereits zu Hause und bereitete das Nachtmahl zu. Wilhelmine kam meistens um sieben Uhr heim. Das hing immer davon ab, wie lange es dauerte, die Tageseinnahmen abzurechnen und die Kassa an Frau Kratochwilla zu übergeben. Diese war dann bis zur Sperrstunde die Sitzkassierin des Café Sperl.
Für Steffi Moravec bedeutete diese Regel, dass sie sich den ganzen Tag über auf der Straße herumtreiben musste. Ein trostloses Unterfangen, das ihr zusehends auf die Nerven ging. Vor allem auch deshalb, weil sie das bisschen Geld, das sie noch besaß, nicht ausgeben wollte. Es war für sie finanziell undenkbar, in ein gemütliches Gasthaus oder in eine Café-Konditorei zu gehen, etwas zu essen, in die Luft zu schauen, andere Gäste zu beobachten und solchermaßen die Zeit totzuschlagen. Und so schlenderte die Moravec von früh bis spät über den Naschmarkt, tratschte mit den Fratschlerinnen, Köchinnen und Hausfrauen. Im Übrigen war sie auch immer auf der Suche nach einem Kavalier, der sie zum Essen einladen würde. Zweimal hatte sie im Laufe der eineinhalb Wochen dieses Glück bereits genossen. Beide Male wollten die Herren aber nach der gemeinsamen Mahlzeit mit ihr in ein nahe gelegenes Stundenhotel in der Wiedner Hauptstraße gehen. Steffi, der vor diesen Kerlen grauste, verabschiedete sich beide Male sehr plötzlich und verschwand. Sie empfand fahrende Händler und Hausierer – auch wenn sie etwas Geld hatten – als einen Umgang, der nicht ihrem Niveau entsprach. Dass sie beide Männer schamlos ausgenutzt und ihnen falsche Hoffnungen gemacht hatte, war ihr herzlich wurscht. Diese Kerle würden ihr Geld ohnehin verpulvern – beim Karten spielen, Saufen oder sonst wo.
Als sie wieder einmal endlos über den Naschmarkt gestreift war und sich kein Kavalier fand, der sie einlud, bekam sie eine Höllenangst. Inmitten des ganzen Markttrubels fühlte sie sich plötzlich einsam und verlassen. So verlassen, wie kein anderer Mensch auf der Erde. Dazu kam eine würgende Existenzangst. Wie lange würde Mama Schmoll ihr noch ein Quartier geben? Wie lange würde sie bei den Schmolls kostenlos essen, schlafen und logieren können? Wenn sie auch dort hinausgeworfen würde, müsste sie im Freien übernachten und betteln. Oder aber auf den Strich gehen. Bei all den ungepflegten Kerlen, die sie hier am Markt sah und kennenlernte, war das fürwahr ein abschreckender Gedanke. Voll Sehnsucht erinnerte sie sich an den gepflegten und sorgsam parfümierten rundlichen Leib ihres geliebten Vestenbruggs. Jetzt, wo er nicht mehr war, liebte sie ihn fast noch mehr als früher. Warum musste er sterben und sie allein hier zurücklassen? Vor Trauer und auch vor Wut über ihre Hilflosigkeit kamen ihr die Tränen. Und weil ihr plötzlich alles vollkommen wurscht war und sie gerade neben dem dampfenden Kessel einer Knödelfrau stand, kaufte sie sich einen Semmelknödel. Sie verschlang ihn mit genussvollen kleinen Bissen und es kam ihr vor, als ob sie noch nie so einen guten Knödel gegessen hatte. Und das, obwohl Vestenbrugg sie regelmäßig in Gasthäuser und auch in feine Speisehäuser ausgeführt hatte. Es war ihr, als ob sie jedes einzelne Zwiebelstückchen und Petersilienblättchen aus der Knödelmasse herausschmecken würde.
Als sie den Knödel verzehrt hatte, beruhigte sie sich wieder. Das nagende Hungergefühl war weg und sie schlenderte nun entspannter über den Markt. Der Genuss des Semmelknödels erinnerte sie an den wundervollen Abend in der Salesianergasse, als der Graf Collredi sie überraschend besucht und mit
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