Reigen des Todes
Regierung oder gar des Kaiserhauses? Und als er diesen düsteren Gedanken nachhing, sah er plötzlich den Schöberl auf die Suppen- und Teeanstalt zugehen. Er sprang auf, ging zur Kaffeehaustür, öffnete sie, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Schöberl drehte sich um, Nechyba winkte ihm. Zögernd wechselte der Griasler die Straßenseite. Nechyba rief ihm freundlich zu: »Komm rein! Ich muss mit dir reden.«
Abends daheim im Bett sagte er plötzlich zu seiner Frau Aurelia: »Ich hab dem Schöberl heute fünf Kronen gegeben.«
»Fünf Kronen? Das ist ein Batzen Geld.«
»Ich hab ihm g’sagt, er soll sich und den anderen in der Suppen- und Teeanstalt eine Runde Eintopf kaufen.«
»Und warum hast das g’macht?«
»Erstens weil ich den Schöberl bei Laune halten muss. Damit er mich benachrichtigt, wenn die Steffi Moravec in seinen Kreisen auftaucht. Und zweitens – Herrgott noch einmal! – weil mir die Griasler einfach leidtun …«
V/2.
Frau Schmoll war eine strenge Frau. Diese Strenge hatte sich in den letzten zwei Jahrzehnten ihres Witwendaseins als notwendiges Rüstzeug erwiesen. Und obwohl ihre Tochter Wilhelmine nun schon vierundzwanzig Jahre alt war, fürchtete sie die mütterliche Strenge noch immer. Unerbittlich wachte Amalie Schmoll darüber, dass ihr einziges Kind einen anständigen Lebenswandel führte. Mutter Schmolls Wachsamkeit war auch deshalb sehr angebracht, da ihre Tochter einen moralisch nicht ganz unbedenklichen Beruf ausübte. Sie war Sitzkassierin im Café Sperl. Ein Kaffeehaus, in dem nicht nur die Offiziere der nahe gelegenen k.u.k. Kriegsschule, sondern auch die Künstler des Hagenbundes verkehrten. Diesen Künstlern misstraute Mama Schmoll ganz besonders, handelte es sich bei diesen Kerlen doch um Bohemiens und Freidenker extremer Ausprägung. Nicht nur, dass sie die altehrwürdige akademische Malkunst infrage stellten, nein, auch die Moralvorstellungen eines anständigen Christenmenschen wurden von diesen Gesellen missachtet. So musste Mama Schmoll schon einige Male rettend eingreifen, als einer dieser Kerle ›Portraitstudien‹ ihrer Tochter anfertigen wollte. Und auch die Feste, die der Hagenbund immer wieder veranstaltete, durfte Wilhelmine Schmoll nicht besuchen. Ihre Mutter wusste doch, wohin diese Feierlichkeiten führten: in zahllose Ausschweifungen und in die ewige Verdammnis. Aber auch die Herren Offiziere waren nicht viel besser, und deshalb musste Amalie Schmoll mit ihrem Töchterchen streng sein.
Für Adolf Kratochwilla, den Cafetier des Sperls, war gerade diese moralisch bedenkliche Klientel der Garant dafür, dass er seinen Angestellten und vor allem der bildhübschen Wilhelmine Schmoll anständige Löhne zahlen konnte. Denn diese Klientel trank und konsumierte nach Herzenslust, sodass der Umsatz stimmte. Und da Mama Schmoll auch nur ein Mensch war, fand sie sich schweren Herzens mit der Tatsache ab, dass ihre Tochter als Sitzkassierin arbeitete.
Seit etwas über einer Woche nahm sie außerdem auch in Kauf, dass Steffi Moravec sich in ihrer Wohnung einquartiert hatte. Die Jugendfreundin ihrer Tochter war eines Abends als heulendes Häufchen Elend vor der Tür der Schmoll’schen Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung gestanden. Die Bitte, ihr Unterschlupf zu gewähren, konnte Mama Schmoll nicht ablehnen. Hätte sie das arme Mädel abweisen sollen? Noch dazu, wo Steffi ihrer Tochter vor zwei Jahren die lukrative Arbeit als Sitzkassierin im Café Sperl verschafft hatte? Damals, als Steffi Moravec gehofft hatte, infolge ihrer Bekanntschaft mit dem Oberstleutnant Vestenbrugg nur mehr privatisieren zu können. Und da Frau Schmoll eine strenge, aber nicht hartherzige Frau war, ließ sie Steffi Moravec in ihre Wohnung einziehen. Ihr Schlafplatz war das Sofa im Wohnzimmer, Mama Schmoll und ihre Tochter Wilhelmine teilten sich das Ehebett, das nebenan im Kabinett stand.
VI/2.
Solange sie sich zurückerinnern konnte, fürchtete Steffi Moravec die Strenge von Mama Schmoll. Ihre eigenen Eltern ließen sie immer tun und machen, was sie wollte. Wilhelmine hingegen musste stets die Regeln und Anweisungen ihrer Mutter befolgen, weil es sonst Schläge mit dem Rohrstaberl 29 setzte. Trotzdem war Steffi Moravec, als sie von der spitzmäusigen Vermieterin auf die Straße gesetzt worden war, nur Mama Schmoll als letzte Rettung eingefallen. In dieser bitteren Situation wurde ihr wieder einmal bewusst, wie mutterseelenallein sie im wahrsten Sinne des Wortes war. Ihre Eltern
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