Reigen des Todes
hatte er nichts anderes im Kopf als: nackte Weiber.
IV/2.
»Ausgezeichnete Arbeit, Nechyba!«, lobte Zentralinspector Gorup von Besanez den in sein Büro Eintretenden. »Dass Sie herausgefunden haben, dass der Vestenbrugg nicht verschollen ist, sondern ermordet wurde. Und dass Sie auch sein Liebesnest, das zugleich der Ort der Mordtat war, gefunden haben, dafür zolle ich Ihnen Respekt.«
»Nicht der Rede wert, Herr Baron. Schließlich ist das ja meine Aufgabe«, murmelte Nechyba verlegen. Und bei sich dachte er: ›Wenn ich den Goldblatt nicht kennen würde, wäre ich ganz schön aufgeschmissen.‹
»Was ich Ihnen auch noch sagen wollte: Ihre Razzia im Kanalsystem war nicht nur wegen dem gefundenen Kopf ein Erfolg. Von oberster Stelle – von Seiner Exzellenz dem Herrn Innenminister – haben wir eine Belobigung bekommen, dass wir auf einen Schlag über hundert arbeitsscheue beziehungsweise unterstandslose Subjekte aufgegriffen haben. Der Großteil dieses Gesindels ist bereits wegen Vagabundage verurteilt und ins Arbeitshaus abgeschoben worden.«
Nechyba zog vor, nicht zu antworten. Er sah die armseligen und zerlumpten Gestalten vor sich. Plötzlich kam er sich schuldig vor, dass er halbverhungerte Obdachlose, die nichts verbrochen hatten, den Fängen der Justiz ausgeliefert hatte. Er bekam einen Schweißausbruch, sein Magen krampfte sich zusammen. Er fühlte sich plötzlich eingesperrt im Zimmer seines Vorgesetzten. Mühsam schnappte er nach Luft. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hinausgelaufen.
»Jetzt müssen S’ nur noch die Mörderin finden. Wie heißt sie gleich?«
»Steffi Moravec.«
»Genau. Die müssen S’ noch finden, dann können wir den Fall zu den Akten legen. Übrigens: Ich hab mir so meine Gedanken gemacht. Glauben Sie wirklich, dass so ein Mädel alleine einen Mann wie den Vestenbrugg umbringt, zerstückelt und die Leichenteile in den Wienfluss beziehungsweise in den Donaukanal wirft? Ich könnte mir vorstellen, dass die einen Helfer gehabt hat. Überprüfen S’ das, Nechyba.«
Als der Inspector endlich draußen an der frischen Luft war, hörte das Gefühl der Beklemmung auf. Nach der Besprechung war er in sein Büro gegangen, hatte Melone und Mantel geholt und Pospischil beauftragt, die Stellung zu halten. Ohne ein genaues Ziel zu haben, spazierte er durch die Innenstadt. Beim Tiefen Graben angelangt, fasste er einen Entschluss. Er ging direkt in die Suppen- und Teeanstalt, in der er Schöberl getroffen hatte. Sie war jetzt am Nachmittag nur mäßig besucht. Die Anwesenden zogen alle die Köpfe ein, als sie ihn sahen. Sein Erscheinungsbild – Melone und schwarzer Mantel – signalisierte: Polizeiagent. Andere korrekt gekleidete Herren würden hier niemals hereinschauen! Nechyba sah sich in allen Räumen um, fand aber den Schöberl nicht. Und von den Anwesenden konnte oder wollte ihm niemand sagen, wo er zu finden sei. Nechyba dachte kurz nach und verließ laut und höflich grüßend die Anstalt. Er wechselte die Straßenseite und betrat ein Kaffeehaus, das sich schräg gegenüber befand. Dort setzte er sich auf einen Fensterplatz und wartete. Zum Zeitvertreib blätterte er in den Zeitungen, die alle vom Attentat auf den Grafen Potocki berichteten. Im Nachmittagsblatt der ›Neuen Freien Presse‹ las er:
»Der Statthalter von Galizien, Graf Andreas Potocki, wurde gestern von einem ruthenischen Studenten ermordet. Die politische Verblendung, die wahnwitzige Leidenschaft und der kochende nationale Haß, welche die Beweggründe des Verbrechens waren, können den Abscheu vor einer Tat nicht mildern, die in der österreichischen Geschichte ohne Beispiel ist. Die nationalen Kämpfe haben die stärkste Zwietracht und die größte Verbitterung zwischen den rivalisierenden Völkern in dieser Monarchie hervorgerufen …«
Versonnen schaute Nechyba beim Fenster hinaus und dachte über seinen Standpunkt nach. Der Herkunft nach war er Tscheche. Sein Vater war Mitte des letzten Jahrhunderts nach Wien gekommen, von ihm hatte er Tschechisch gelernt. Er selbst empfand sich als Österreicher. Trotzdem hatte er für die Tschechen und ihre nationalen Ambitionen große Sympathien. Er verstand aber, dass auch alle anderen Völker der Donaumonarchie auf mehr Selbstbestimmung drängten. Trotzdem hatte er als Staatsbeamter und Polizist keinerlei Verständnis für Aufruhr und Demonstration. Das Attentat selbst war für Nechyba unfassbar. Was würde noch kommen? Attentate auf Mitglieder der
Weitere Kostenlose Bücher