Reigen des Todes
wo vereinzelt Menschen gingen, Pferdedroschken und eine Tramwaygarnitur fuhren. Als sie dem nächtlichen Treiben eine Weile von der Ferne aus zusah, erkannte sie plötzlich, dass der Mensch dazu neigte, einen einmal genossenen Luxus ziemlich rasch als unverzichtbar zu empfinden.
»Ich bin eine blöde Gans«, murmelte sie. Und mit Schaudern dachte sie an ihre Kindheit zurück. An die Zeit, als sie im ›Ratzenstadl‹, einem der verkommensten und ärmlichsten Gretzln Wiens, aufgewachsen war. Wie sie und ihr Bruder, vor Dreck starrend, selbst im kältesten Winter immer bloßfüßig herumgerannt waren. Gemeinsam mit ihren Eltern und der Großmutter hausten sie zusammengepfercht in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Als ihre Eltern überraschend gestorben waren, hatte sie das erste Mal das Gefühl gehabt, über etwas mehr Platz und einen persönlichen Freiraum zu verfügen. Seitdem war sie süchtig nach Platz. Eine Sucht, die sie in den nächsten Jahren überhaupt nicht ausleben konnte. Denn sie war dank der Fürsprache des Gumpendorfer Pfarrers als Zögling des Marienstiftes aufgenommen worden. Hier musste sie auf engstem Raum mit ihren Schicksalsgenossinnen in engen, muffigen Zimmern leben. Aber immerhin hatte sie dort ordentlich Lesen, Schreiben und Rechnen sowie die Grundregeln des guten Benehmens gelernt. All das half ihr schließlich, eine Stelle als Dienstmädel bei einer Bäcker- und Hausbesitzerfamilie zu ergattern. Der zaundürre Bäckermeister und seine immens fette Gattin hielten sie wie eine Leibeigene. Sie musste die zwei ungezogenen Kinder beaufsichtigen, die riesige Wohnung putzen, Einkäufe erledigen, waschen, bügeln und, wenn Not am Mann war, auch als Verkaufskraft in der Bäckerei aushelfen. Sie hatte in der Regel einen Achtzehn-Stunden-Tag und war ständig übermüdet. Ihr Glück war, dass sie einmal beim Aushelfen hinter dem Verkaufspult der Bäckerei den Herrn Kratochwilla kennengelernt hatte, als er für sein Kaffeehaus frische Kipferln kaufte. Sie musste grinsen, als sie sich daran erinnerte, wie der Cafetier Stielaugen bekommen hatte, als er ihren Busen unter der weißen Bäckerschürze hin- und herhüpfen sah. Ihr schon damals sehr prächtig entwickelter Vorbau schien ihm schier den Verstand zu rauben. Er hatte damals nur dummes Zeug gestammelt und ihr außerdem eine ganze Krone Trinkgeld gegeben. Als er am nächsten Tag wiederkam, sie aber auf ihrem angestammten Platz in der Wohnung des Bäckers arbeitete, eruierte er ihren Namen und ihre Stellung. Alles Weitere war dann wie im Märchen. Kratochwilla hatte sie ein paar Tage später, als sie Besorgungen machte, auf der Straße abgepasst. Er stieß die heißesten Liebesschwüre aus und versprach ihr das Blaue vom Himmel. Sie aber ließ ihn wie einen Fisch an der Angel zappeln. Bis er schließlich einen Streit mit seiner damaligen Sitzkassierin vom Zaun brach und sie Knall auf Fall hinauswarf. Umgehend hatte er diese Stelle der Steffi angeboten, die natürlich zugriff. Schließlich hatte sie das elende Dienstmädchendasein mehr als satt. Sie lebte sich sehr schnell in ihre neue Stellung ein und war auch sehr geschickt beim Rechnen und bei allem, was mit Geld zu tun hatte. Natürlich kam sie nun nicht darum herum, ihrem Gönner die von ihm begehrten persönlichen Dienste zu erweisen. Da Adolf Kratochwilla aber glücklich verheiratet war, geschah das immer sehr diskret und nicht allzu oft. Als Sitzkassierin hatte sie sehr schnell eine ganze Gemeinde von Verehrern um sich geschart, die teilweise nur wegen ihr ins Sperl kamen. Kratochwilla war in jeder Hinsicht sehr zufrieden, und da er sie wirklich mochte, bezahlte er sie auch anständig. So konnte sie sich ein geräumiges Untermietzimmer leisten. Das war damals ein befreiendes Gefühl, und als sie sich daran gewöhnt hatte, schwor sie sich, niemals mehr in beengten Verhältnissen zu wohnen. Voll Ärger und Abscheu erinnerte sie sich an ihren Hinauswurf aus dem Collredischen Palais sowie an die kurze Zeit, die sie in Kokoschkas ›Einzelhaftzelle‹ verbracht hatte. Danach die beiden folgenden Unterkünfte, in denen sie auch mehr dahinvegetiert als gelebt hatte. Tja, und jetzt war sie hier in der Fasangasse gelandet. In einem Sauhaufen, der aus allen Nähten platzte. Zum Glück hatte Schwarzer schon vor einigen Monaten ein neues, größeres Atelier am nahen Arenbergring gefunden. Der Umzug würde nun endlich beginnen … Als sie in ihren Überlegungen innehielt, musste sie schmunzeln. Eigentlich konnte sie
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