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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Eidechse. Aus den Vogelflügen, solchen und solchen, las er, statt gleichwelcher Zukunft, welche ihm in jenen heiteren Pilzsucherjahren kaum je »die Stirn umwölkte«, nichts als die Gegenwart, die stoffliche Jetztzeit, ab, das Jetzt und Jetzt, verglich die verschiedenen Flugarten, -höhen, -perioden und wußte bei manch einem Flügelgeräusch, von welcher Art Vogel es kam. Ebenso stieß er bei seinen Querwaldeinexpeditionen auf nicht wenige Bunkerreste, auch ganze verborgene Bombentrichtermuster, gefüllt mit Reisig und halbjahrhundertaltem Laub, darin Blechnäpfe und Stahlhelme, anderwärts auf Einschlüsse von Johannis- und Stachelbeeren aus noch viel älterer Vergangenheit – aber selbst da, beim Auf und Ab in den Trichtern, beim Einsammeln der verwilderten, kleingeschrumpften einstigen Zuchtbeeren, wollte er nichts von gleichwelchen Vergangenheiten wissen oder ahnen, sondern lernen allein aus dem Jetzt und Jetzt.
    Er war, oder glaubte sich, zu der Zeit noch weit entfernt vom nachmaligen Pilznarren. Mit seiner Leidenschaft, welche in seinen Augen, im Gegensatz zu nicht wenigen Leidenschaften, eine vernünftige war, eine, die ihn bereicherte, bereicherte er auch die andern, und nicht nur die Seinen, auch die Zufälligen, die Dahergeschneiten. Jedenfalls, statt ihn, der seit jeher versucht war, siehe das Sichabsondern an die Ränder, sich vor den Zeitgenossen zu verschließen, öffneteihn seine Leidenschaft erst einmal für diese. Wie sonst wäre er mit seinen Funden aus den Wäldern getreten wie mit Liebesbeweisen?
    Der Zwischenraum, wo er, so sein Wort mit der Zeit, »lagerte« und seine Gerichtsauftritte vorbereitete, wurde zugleich, wieder sein Wort, »simultan«, sein Auslug-Sitz zu seinen Zeitgenossen. Das war beileibe keiner von den Hochsitzen, wie er und ich sie von den heimischen Waldrändern kannten, eher Hochstände, die oft bis in die Wipfel der Saumfichten reichten, für die Jäger und Heger, gegebenenfalls auch für Liebespaare. Und trotzdem, auf ebener Erde in dem Zwischenraum, als seinem höchsteigenen Bereich, wenn nicht Reich, lagernd, war ihm, als säße er erhöht über den Leuten, die im Lauf seiner Arbeitsstunden den Wald bevölkerten.
    Das kam daher, daß er sie sah, ohne von ihnen gesehen zu werden. Von ihrer Seite aus schien der Zaun oder die Mauer aus Dornreisig, aufgetürmt wie zu einer Palisade, welche seinen Zwischenraum von der Außenwelt trennte, undurchsichtig, obwohl der Weg nah dran vorbeiführte, während er drinnen, mit seinem Sitz in einigem Abstand zu der Schranke, so die von links wie von rechts Auftretenden als Gestalten im Blick hatte, zwar nicht an den Einzelheiten und besonderen Merkmalen, aber an den Umrissen, den auf diese Weise umso bezeichnenderen – den charakteristischen.
    Bei ihm hieß dieser Weg, so wie der »Vorgeburtsweg«, wo er vor der Geburt seines Kindes dem ersten leibhaftigen Steinpilz begegnet war, dann der »Völkerwanderungsweg«. Es war ihm zur Regel geworden, daß er, der Anwalt, von dem Arbeitsplatz dort in seinem Zwischenraum immer wieder aufstand und für kurz oder lang –im Lauf der Zeit länger und länger – sich hin zu den Bäumen im Rücken aufmachte und auf die Suche ging, ihr wißt schon, wonach. Und obwohl er sich dessen nie sicher war, wurde er ein jedes Mal fündig. Ein jedes Mal? Ja, ein jedes Mal. Und jeder Fund bescherte ihm eine Überraschung, ein ungeahntes Ding-Wesen, einen neuen Ort, Farbton, Formakzent, Geruch. Und fast ein jedes Mal witterte er schon im voraus eine neue Fundstelle – ein Wittern, welches hieß: Alle Sinne wurden wach. Und wenn er sich dann doch einmal irrte, phantasierte und zugleich betrachtete er an dem Irrtumsort umso aufgeweckter das Ausgebliebene, das Abwesende, das Fehlende. Aus seiner lebenslänglichen Langeweile wurde so ein lebendiges Verweilen. »Ich langweile mich? Ich? Nichts da!«
    An seinen Platz im Zwischenraum zurückgekehrt, flog ihm damals nicht nur das Weitertun von alleine zu. Er nahm darüber hinaus Anteil an den jenseits der Reisigpalisade sich vorbeibewegenden Figuren, wie ihm das bisher im Leben nicht im Entferntesten zugestoßen war. Ja, die Leute da, dahinter, sie stießen ihm zu, und er gestand sich ein, daß all seine episodische Geselligkeit, daß sein immer wieder doch so wirkungsvolles Auftreten in der Gesellschaft nichts war im Vergleich zu seiner seit Anbeginn ihn von den anderen wegjagenden, ihn vereinzelnden, chronischen Menschenscheu.
    Damals aber, beherzt von der Arbeit

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