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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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ein paar Schritte weg vom Rand, dem eine breite leere Schneise, für eine Gasleitung oder sonst was, vorgelagert war. Und trotzdem saß der Anwalt da immer allein, so als sei das Rund, bei dem er sich eine mittelalterliche Thingstätte vorstellte, einzig für ihn zugänglich und für jeden gleichsam »Betriebsfremden« tabu. Es war auch, als sei es so vorgesehen, daß der Einlaß zu der Stätte versperrt war mitda palisadenhoch aufgeschichteten Reisigbündeln, und der Durchschlupf sei da nicht bloß für ihn, sondern von vornherein ihm allein überhaupt sichtbar.
    Wieder ein Sommer, doch diesmal ein Vormittag, mit Sonne (oder auch nicht). Und nach dem Betreten des Thingplätzchens am Fuß der Buche, wo sein Arbeitslager war, wie ihn erwartend eine regelrechte Versammlung der – ja, das wurden und waren sie augenblicklich wieder – Wesen, welche vor Jahr und Tag von ihm nicht bloß vergessen, sondern, so ging ihm jetzt auf, verraten worden waren. »Da seid ihr also wieder!« redete er sie unwillkürlich an. »Da sind wir also wieder.« Sie standen da im vorjährigen Buchenlaub und zwischen den haarigen leeren Schalen der Bucheckern zu Dutzenden, und allesamt fast gleich groß und kerzengerade, und alle auf gleichmäßig schlanken, ungebauchten Beinen, wie, das lernte und predigte der Pilznarr erst später,einzig und allein Steinpilze rund um Buchen Parade stehen können – »wenn sie da überhaupt, selten genug, wachsen und es ihnen gelingt, die bei Buchen besonders stickige und lebensfeindliche Schicht aus Laub und stachligen Eckern – sprechender Name! – zu durchstoßen«.
    Es waren ihrer gar viele, und er hörte bald auf, sie zu zählen. Die Menge war dafür nicht der Hauptgrund. Das Zählen überhaupt, angesichts solcher Pracht, kam ihm unangemessen vor. Die Vielzahl an Ort und Stelle war außerdem eine Seltenheit. Nie wieder ist sie ihm später so untergekommen, und sooft er von anderen hörte, sie seien auf Pilze in einer Masse gestoßen, »daß man sie mit einer Sense hätte mähen können«, wußte er, Leute mit derartigen Redensarten hatten mit Pilzen, jedenfalls wie er diese erlebte, nichts zu schaffen.
    Wieder seltsam, oder auch nicht: Selbst wenn ihm Pilzsorten, von denen er die Erfahrung gemacht hatte, daß sie wohlschmeckend waren, tatsächlich in Massen begegneten, begriff er sie nicht als »Masse«, so wie er sich auch keinmal als »Pilzfreund« sah; das Wort nahm er nie in den Mund und hörte es mit der Zeit von seinen Mit-Mykologen mit wachsender Geringschätzung. »Mykologen«? Nein, die von ihren Funden in »Kilos« sprachen, die sie »in einer Minute« gesammelt hatten und »eimerweise« aus dem Wald trugen, das waren keine Pilzkenner oder gar -wissenschaftler, so wie er, obwohl er im Verlauf der Begebenheiten zwischendurch mikroskopierte und, ebenfalls nur episodisch, präparierte, kein Mykologe wurde, sondern, wie selbst er es sich von Zeit zu Zeit eingestand, eben ein Pilznarr.
    Lange Zeit freilich, mindestens für das auf den Morgen unter der Buche folgende Jahrzehnt, erweiterten Interesse und dann sogardie Leidenschaft für die Pilzwelt, statt ihn einzuschränken, seinen Gesichtskreis; verdunkelten ihn nicht – wie es mir schien –, vielmehr hellten ihn auf. Solcherart Ablenkung tat seinem Kopf, und da seiner Arbeit, jedoch nicht bloß ihr allein, gut. Das erfuhr er schon damals in der Stunde nach dem großen Fund, nachdem er die Dutzende der Steinpilze einen nach dem andern sachte, sachte aus dem Untergrund gedreht – von einem jeden dabei ein (ums Kennen) verschiedener Ton (ja, eindeutig diesmal ein Ton!) – und übereinandergetürmt hatte: Das Studium der Akten, das Notieren, das Kombinieren, das Beweisführen und ebenso das Beweise-in-Frage-Stellen, und insbesondere das Zusammendenken, Schlüsseziehen, zuletzt Schlüssigwerden, sie fielen ihm leichter als sonst, sie flogen ihn momentweise geradezu an. Ein Blick hin zu der rotweißbraunen Pyramide jenseits seiner Schuhspitzen, und er sah in seinem Tun weiter.
    Was aus dem neuerlichen Schatzfund am Ende jenes Tages geworden ist – ob er ihn zum Auftischen heimbrachte, ihn zum Trocknen in Scheiben schnitt oder verschenkte –, wußte der Pilznarr mir dann nicht zu sagen. Was galt: Seit jeher hatte er mit etwas Besonderem zur Haustür hereinzukommen gewünscht, schon damals im dörflichen Elternhaus, nur daß dieses Besondere immer ausgeblieben war: Jedesmal war er mit leeren Händen nachhause gekommen. Jetzt endlich stünde er mit

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