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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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einer Besonderheit, mochte die auch allein für ihn eine sein, auf der Schwelle. (Oho, auch das Kind bekäme Augen.) Und was stärker noch zählte: Der eine, der erste Augenblick des Ansichtigwerdens und -gewordenseins. Klar umrissen blieb ihm der im Gedächtnis, während sämtliche anderen Augenblicke jenes Tages längst keine mehr waren.
    Und noch etwas hatte er dann, selber davon überrascht, zu erzählen: Eigentlichhatte er vorgehabt, am Abend ins Kino zu gehen, für einen Film, auf welchen er sich schon lange gefreut hatte. Aber in der Folge des so märchenkräftigen Ansichtigwerdens war die Lust auf den Film verschwunden, oder es war ihm, als habe er ihn, da in dem Zwischenraum, bereits gesehen. Zwar sei er hernach trotzdem ins Kino gegangen. Aber das sei, in Anbetracht der Sekunde am Morgen, kein Vergleich gewesen. Lang sei ihm die Zeit im Kino geworden – was nicht heiße, der Film habe ihn gelangweilt –, fast so lang, wie im übrigen seit jeher, seit der Kindheit, vielleicht schon der allerfrühesten, überhaupt das Leben auf Erden. Einmal, kurz nach dem Studium, hatte er taggeträumt, ein Schriftsteller zu werden, wie ich, und dann wirklich einen Roman geschrieben, welchen er »Mein Leben« nannte, und der nur aus ein paar wenigen Sätzen, einem einzigen kurzen Absatz bestand, mit der letzten Zeile: »Die Zeit wurde ihm lang auf der Erde.« Einzig in den Kinos – selbstwenn ein Film ihn langweilte – war ihm die Zeit selten lang geworden. Doch seit jenem Morgen wurde sie das sogar dort in der zuvor so verläßlich pulsierenden Dunkelheit, und danach, mit den sich steigernden Sensationen seines Pilznarrentums, gar ebenso lang wie insgesamt all das pilzferne Erdendasein.
    Dahin kam es mit meinem Freund allerdings erst gegen das Ende seiner Geschichte, vor seinem Verschollengehen, und so weit bin ich, sind wir noch lange nicht. Erst einmal heilte ihn seine Leidenschaft von dem, was er »mein Kranken an der Zeit« nannte, und sie heilte ihn nicht bloß zum Schein: Der an ihrer Hand gesundete Zeitsinn übertrug sich für eine Dauer auf das ihm vorher, während nicht und nicht enden wollender Stunden so beschwerliche, für Momente gar völlig verödende alltägliche Leben; diese Leidenschaft machte, daß ihm die Zeit auf Erden nicht mehr lang wurdeoder wenn doch zwischendurch einmal, weniger nichtendenwollend. Sie ließ ihm die Zeit nicht etwa rascher vergehen oder kurzweiliger werden – sie machte diese, auch das für eine fühlbare Dauer, fruchten. Mithilfe seiner Leidenschaft, gerade durch deren Besonderheit wurde ihm die Zeit auf dem Planeten Erde kostbar, erschien ihm seine Lebenszeit umgewandelt in Stoff. War er ins Kino gegangen, um den Tag abzukürzen – ah, daß es endlich Nacht wäre! –, konnte ihm bei seinem Ausschauhalten und Stöbern in den Wäldern der Tag nicht lang genug dauern. In den Wäldern gewann er sein Maß. Er war dort, wie erstmals im Leben, »getrost«, so als sei er vorher nicht »bei Trost« gewesen. Und jedesmal erfaßte ihn auf der Schwelle zum Wald eine Unbändigkeit, wie vor einer großen Tat; wie vor einem großen Tag. Und dann das Findig-, das Ansichtigwerden: So anders als jeder Film stillte es das endlose innere Gerede, stillte es die seelenlosen Refrains, stillte es die quälenden falschen Melodien, stillte, und stillte, und stillte, und ließ still und Stille werden.
    Besonders stofflich wurde ihm jetzt die Zeit, indem er neu zu lernen begann. Er hatte in Kindheit und Jugend gerne gelernt, dann aber weniger und weniger mit der anfänglichen Lust. Fast war er ab einer bestimmten oder eher unbestimmbaren Schwelle darauf aus, nicht noch mehr zu wissen, als er schon wußte. Und nun lernte er, ohne eigens zu wollen, das Wissen flog ihm, ohne jeden Vorsatz, zu.
    Was war das für ein Wissen? Erst einmal das Wissen über die Pilze, das Suchen, die Standorte, das Unterscheiden, das Verwechseln, das Genarrtwerden, und meinetwegen, wenn auch in seinem Fall weniger des Wissens wert, das Zubereiten. – Was gab es denn durch das Pilzesuchen, oder eben das In-die-Pilze-Gehen groß zu wissen? Was zuerfahren? Was zu gewinnen (womit nicht das Geld gemeint sei)? – Abwarten! Die zugehörige Geschichte wird nicht ausbleiben. Und außerdem hatte er mit dem neuen Lernen vordringlich eines im Sinn, das mit dem speziellen über die Pilze Hand in Hand ging.
    Obwohl auf dem Land aufgewachsen, wußte er wenig über die Natur, und dieses Wenige war, und da stellte er unter den Landmenschen

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