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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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keine Ausnahme dar, im großen und ganzen allein das, was gebraucht oder aber gefürchtet wurde. Und jetzt, sozusagen als Begleit-Erscheinung seiner späten Pilzleidenschaft, wuchs ihm von Suchgang zu Suchgang, von »Expedition« – wie er das zusehends erlebte – zu Expedition mehr Wissen zu über die Waldbäume, vor allem deren Wurzeln, die Erdschichtungen, auf denen er sich bewegte, Kalke? Mergel? Granite? Schiefer, die Arten der Winde – siehe der Barmann im Stadtzentrum – und Formationen der Wolken, die Planetensphären und die Mondphasen. In der Periode, gegen Ende, seines ausgesprochenen »Kennertums« trat er, zum Beispiel, bei einem Pilzforscherkongreß, wo er, der Staranwalt, der Ehrengast war, auf gegen die vorherrschende Meinung, das Vollmondlicht ziehe die Pilze verstärkt aus dem Erdreich, und plädierte im Gegenzug für den Neumond: In den Nächten ohne Mondlicht, einzig bei Sternenschein aus dem klaren Nachthimmel, dränge es die Pilze, vor allem die Steinpilze, förmlich aus dem Untergrund, und er belegte das mit der und jener »selbst erlebten« Geschichte.
    Es war im übrigen auch etwas an ihm, das ihn besonders befähigte zum Ausfindigmachen oder Ansichtigwerden aller gleichsam aus der Reihe tanzenden Erscheinungen, etwas, das einer seiner Lehrer den »kranken Blick« genannt hatte: In der allgemeinen, vielleicht bloß durch die tägliche Gewohnheit so gewordenen Gleichförmigkeit hatte er von klein auf ein Auge gehabt für die widersprüchliche, die andere, die fremde Form, und ebenso sprang ihn auf der Stelle die auffällige, die ausgefallene andere Farbe an, der unzugehörige Farbton, die entgegengesetzte Geometrie, inmitten des gleichförmigen Durcheinanders das klar Gefiederte, das leuchtend Gescheckte, inmitten all des Ungemusterten das Muster.
    Er war auch auf den Einwand gefaßt, sein neu dazugewonnenes Wissen sei, im Unterschied zu dem Wissen seiner frühen Jahre, ein unnützes. Überdies war er sich selber im klaren, daß er mit solcherart Dazulernen, einem unwillkürlichen, ihn ohne sein Zutun beschenkenden, Gefahr lief, zu verlernen, was zu wissen für den Erfolg in seinem Beruf ein Muß darstellte. Aber mit der Zeit, der durch sein Suchertum mehr und mehr stofflichen, erfuhr er, daß er nichts von seinem für die Gerichtsarbeit nötigen Wissen verlernte – daß es ihm statt dessen, gleichsam gelüftet vom Naturwissen, deutlicher und vor allem gegliederter denn je vor Augen stand. Zwar, ja doch, verlernte er einiges, aber nichts als das unnötige Beiwerk, und auch das trug bei zum Durchlüften des jeweiligen Rechtsproblems. Und sollte sein Neu-ans-Lernen-Gehen, sollte das gesamte Pilzwesen und was es mit sich brachte, im übrigen ruhig unnütz sein: Er fühlte sich in jenen Jahren, in jenem Jahrzehnt, später nicht nur im Sommer und im Herbst, sondern auch im Winter und im Frühjahr davon bereichert, auch wenn er, anders als seinerzeit von dem Erlös an der Sammelstelle, sich nichts davon kaufen konnte (und das auch nicht wollte).
    Er fühlte sich, recht betrachtet, sogar weniger bereichert von seinen Funden als vielmehr von den Begleiterscheinungen; bereichert etwa davon, daß er zu unterscheiden wußte während der Sommer zwischen dem Rauschen der Eichen, zeitweise fast ein Dröhnen, dem der Buchen, eher einem Brausen, und dem der Birken, die selbst in einem starken Wind eher raschelten als rauschten. Es war eine Erfahrung, zu lernen, wie anders im Herbst die Blätter all der verschiedenen Bäume fielen: wie die gezackten Ahornblätter mit Sturzflügen begannen und dann im Gleitflug sacht auf dem Erdboden aufsetzten; wie die Blätter der Edelkastanien, die größten und zugleich dünnsten, in Form von Booten am längsten zum Fallen brauchten – nicht und nicht, obwohl längst frei in den Lüften, fallen wollten, immer wieder, auch im Moment vor der Erdberührung, neu Auftrieb bekamen und noch einmal aufwärts schaukelten-gaukelten; wie das Akazienlaub, in Fächerform, sich, fast alle Fächer auf einmal, vom Ast- und Zweigwerk löste und augenblicks fast als Ganzes zu Boden stürzte, gefolgt von den paar vereinzeltenallerletzten Blattfächern, die, statt gemeinsam zu stürzen, jeder für sich weg- und dahinsegelten; wie – aber geht und seht selber!
    Es schien ihm ein Gewinn, im Winter an einem kahlen Zweig eine Schlangenhaut zittern zu sehen und an einem Vorfrühlingstag einen noch sehr schrägen Sonnenstrahl auf einer in der Nische einer rotgelben Mergelböschung kauernden

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