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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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in seinem Zwischenraum, zudem durchlässig gemacht von seinem Findeglück, nahm er, zeitweise, nicht nur teil – er wurde Teil. Immer wieder geschah es ihm, nein, stieß es ihm zu, daß er auf den oder jenen draußen auf dem Weg überging, so wie er einst an den Waldrändern übergegangen war in das Sausen, Brausen und Röhren des Zweig- und Astwerks, übergegangen als Ganzer, mit Haut, Haaren und insbesondere Knochen, in dasSichwiegen, Sichüberlagern, Sichauseinanderspreizen, Sichneuzusammenfinden der Baumkronen.
    Nie bis jetzt war die Menschenscheu von ihm abgefallen. So wie er vorzeiten als Kind bei einem Aufwachen selbst die Mutter in einem so unerreichbaren Abstand zu sich an der Nähmaschine, oder was es war, hatte sitzen sehen, durchzuckt von dem stummen Aufschrei über solch unheilbare Zwei- wie Entzweitheit, so war ihm auch vor seiner Frau, sogar Auge in Auge, Mund an Mund, der Raum zwischen ihm und ihr unüberbrückbar, zum lauten Aufschrei unüberwindbar erschienen – wo doch, in der geltensollenden Wirklichkeit, jedes Stück Raum zwischen ihnen beiden ausgefüllt war –, und hatte, insgeheim nur, aber umso fühlbarer, die Scheu angesichts seines Nachkommen womöglich noch zugenommen: Nie und nimmer würde er, wozu es ihn drängte wie zu nichts sonst, einswerdenmit dem dessen genauso bedürftigen Anderen da, dort, auf daß der, die, das Andere endlich verschwinde, im Akt des Teilwerdens, welcher gleichbedeutend wäre mit einem Allerbarmen.
    Doch nein: Was er jetzt empfand, im Durchlässigwerden und im Übergehen auf die unversehens nicht mehr wildfremden Gestalten hinter dem Reisigvorhang, das war, indem es, anders als bei den Seinen, so gar nichts zu schaffen hatte mit Liebe, fern, unendlich fern vom Erbarmen. Was er so empfand, war schlicht Verständnis, und in der Folge auch ein umfassenderes Gerechtwerden als das »bis dato« eher bloß berufsmäßig ausgeübte, und, in seltenen Fällen, ein Innewerden, ein jähes, weniger erschreckendes als besänftigendes, des jeweiligen Anderen, vor allem seiner Vorgeschichte, Herkunft, seines von weit, weit Dahergekommenseins und weißgottwohin Weiterziehens – deswegen, rückte meinFreund viel später vor mir heraus, der »Völkerwanderungsweg«. Der da gerade hinter dem Zaun ins Stolpern geraten ist und in einer unverständlichen Sprache geflucht hat, ist vor Jahren aus einem Bürgerkriegsland geflüchtet, und der dort, wie er vor der einen Birke stehenbleibt, gedenkt einer längstverstorbenen Angehörigen, bevor er im Weitergehen laut gähnt, so wie man aber nur gähnt nach einem Erschrecken, und der ihn jetzt kreuzt und ihm ein Bein stellt, dem der andre lässig ausweicht, hat lange davon geträumt, ein Heiliger zu werden, einer, vor dem alle Entgegenkommenden, zumindest die in seiner Herkunftsgegend, einen ehrerbietigen Bogen beschreiben.
    Zuweilen vibrierte es in ihm von dieser Völkerwanderung, und dem einstmals Menschen- oder Kopfscheuen wurde, von all in ihm Weiterwandernden der Kopf schwer, schön schwer. Sooft er dann nach getanem Werk – beides, das Sitzen am Vorzeichnen seiner Verteidiger-Plädoyers und das Suchengehen, welches den Plädoyers die Akzente gab, erschien ihm als ein Am-Werk-Sein – seinen Zwischenraum verließ und auf dem Völkerwanderungsweg sich heimwärts bewegte in meist dunklem Anzug und heller Seidenkrawatte, in der einen Hand die Aktenmappe, in der andern, anfangs umwickelt von einer Zeitung, später mehr und mehr offen, seine zwei, drei so kargen wie auffälligen Fundsachen, sah er sich Teil oder Mitglied der Menge auf der Weltbühne werden wie noch keinmal in den Jahrzehnten zuvor, einer der Akteure, deren jeder eine grundverschiedene Rolle verkörperte, welche aber gerade in ihrer Verschiedenheit zum großen Spiel gehörte und dieses weit und weiter auffächerte.
    Da, im Kreis hockend oder laufend, die Schulkinder, die ihren Waldtag absolvierten. Da, die Wandergruppe, auch ein paar Junge unter den vielen Alten, die lauthals an einer Wegkreuzung stand und offensichtlich uneins war, wohin es weiterging. Da, jetzt, der eine mit Klimmzügen an dem Trimmgerät, hinter ihm der nächste, wartend, daß das Gerät frei würde. Da jetzt das Paar von Reitern, gleichzeitig vom Trab in den Galopp fallend. Jetzt, da noch vereinzelte stille Läufer, von denen der Wald vorhin, während der Mittagspause, geradezu geschallt hatte. Da die junge Frau, ausgerüstet zum Tagweitwandern, der Wald hier kaum mehr als ein Wegstück für sie. Da die

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