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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Flecken auf den Wangen und mit vorstehenden Augen, dieihm in der Erinnerung ebenfalls rund und rot erschienen, hockte es da auf etwas, was wohl einst ein Melkschemel gewesen war, und grinste, nein, lächelte ihn mit den dicken Lippen an. Hinter die Hausecke getreten und sich unsichtbar gemacht? Aber sie hielt ihn zurück, indem sie ihn ansprach, so selbstredend, als habe sie jemanden, jemanden wie ihn, nein, ihn in Person, die längste Zeit schon erwartet. Und was sie ihm sagte, schien im Widerspruch zu ihren hochroten Wangen und den leuchtenden Augen, und dann, im nachhinein, auch wieder nicht. Das Licht sei zu stark, ihr Kopf halte es nicht mehr aus. Gott wolle sie damit strafen, aber wenn sie bloß wüßte, warum! Sein Licht ramme immerzu gegen ihre Stirn, nur sei ihr Stirnknochen zu dick, Gott dringe da nicht und nicht durch. Ah, wie weh Er ihr täte, welch immerwährender Schmerz, und warum? Und jäh stand sie auf, raffte ihr Kleid, eher den Kittel, und verrichtete vor dem fremden Kind ihre Notdurft, wobei ernichts als ihre überhöhten Schuhschäfte im Blick hatte, die wohl ihre schwachen Beine schienen sollten, dazu den Zipfel einer Wollsocke in dem einen Schuh – der Fuß im zweiten Schuh nackt? nein, die Socke tief in ihn hineingerutscht, bis hinab über die Ferse – was damals »verhungert« hieß –, die Socke war in der Schuhtiefe unten »verhungert«.
    Die Schwachsinnige wurde wenig später in ein Pflegeheim weit weg, in einer anderen Gegend, überstellt, der Pilzsammlerclan konnte sich das ja nun leisten, und starb dort nach ein paar Jahren. Zum Begräbnis wurde sie in die Ruine zurück überführt, und er, inzwischen kein Kind und auch kein Pilzsammler mehr – das weiterhin so benötigte Geld verdiente er sich auf andere Weisen –, sah am Ende der Winterferien vom Fenster des Elternhauses aus dem Leichenzug zu. Es hatte tagelang geschneit, aber jetzt war der Schnee in Regenübergegangen, dunkelgraues Licht, von der Schneedecke aufsteigender Dunst; der Sarg, eingehüllt in weißes Tuch, zum Zeichen der Jungfräulichkeit der Toten, und der strömende Regen hob dieses Weiß noch zusätzlich aus dem allgemeinen Düster, verstärkte die Geometrie des Sarges. Es war ihm dann später, als sei dieser besondere Leichenzug nicht allein mit dem Ende der Schulferien zusammengefallen, sondern auch mit einem Abschied für immer, von der Gegend, den Kindheitslandschaften, seinen, so oder so, Angehörigen.
    Auf das Geld war mein Freund seinerzeit als Kind deswegen so versessen gewesen, weil er sich, das mußte sein, etwas kaufen wollte. Und die einzige Möglichkeit, zu dem so dringend benötigten »Zahlungsmittel« zu kommen, war eben seinerzeit, unter den Bedingungen, in denen er aufwuchs, das Sammeln, von Waldfrüchten wie Himbeeren und Brombeeren und vor allem vonPilzen, unter denen die bewußten gelben mit von Land zu Land so verschiedenen Namen – von den Namen insgesamt später in dieser Geschichte – in jener ersten Nachkriegszeit, jedenfalls in seiner Hausgegend, die so ziemlich einzige Handelsware bildeten.
    Und was wollte er sich für sein Pilzgeld kaufen? Richtig vermutet: Bücher. Doch das waren im Fall des Nachbarjungen andere als die von mir begehrten. So wie für mich allein das Erzählte, das Erfundene, das Zusammenphantasierte, die Literatur eben, in Frage kam, so für ihn einzig etwas, das auch er zwar »Literatur« nannte, worunter er aber die Bücher, oder eher gleichwie Gedrucktes, verstand, das seiner weltumspannenden Wißbegierde auf die Sprünge half; seinen unbändigen Wissensdurst (mir sein Hauptmerkmal aus unsrer Kinderzeit: der ausgetrocknete und immer neu austrocknende Mund vor lauter Fragen, Fragen umFragen) stillte. Und so ging er mit seinem ersten Pilzgeld, und nicht bloß dem ersten, zu Fuß an der zu jener Zeit noch spärlich befahrenen Überlandstraße halbtaglang in die Stadt und kehrte zurück, den Rucksack, der noch nach den Pilzen roch (und stank), voll von Broschüren, welche, nach dem Titelthema, hätten heißen können: »…: Was Sie schon immer wissen wollten / Die hundertdreiundneunzig endgültigen Antworten.«
    Dieses sein erstes Pilznarrentum wäre wahrscheinlich im Lauf der Geschehnisse von selber abgeklungen. Es war dann aber, so erzählte er mir, ausgerechnet ein Alptraum, welcher seiner, da noch eher harmlosen, Besessenheit ein plötzliches Ende setzte. Einmal hatte er es geschafft, tief oben in den Bergwäldern auf eine Stelle zu stoßen, die, so schien es,

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