Reine Glückssache
nicht erkennen.
»Heute Abend gibt es leckeres Hühnchen.«
Meine unverheiratete Schwester Valerie, die bei meinen Eltern wohnte, war im neunten Monat schwanger und hatte sich in eine Hormonstute verwandelt. Mit Mamas Hühnchengericht hätte ich also auch die wechselnden Launen meiner Schwester in Kauf nehmen müssen. Wahrscheinlich war auch Valeries Freund Albert Kloughn da. Kloughn war nicht nur ihr Freund, er war auch ihr Chef und der Vater des ungeborenen Kindes. Kloughn war ein Anwalt, der sich redlich abrackerte. Er wohnte praktisch bei uns zu Hause und versuchte, Valerie dazu zu überreden, ihn zu heiraten. Ganz zu schweigen von Valeries beiden Töchtern aus erster Ehe, die eigentlich ganz liebe Kinder waren, aber gern zu der Irrenhausatmosphäre beitrugen.
»Kartoffelbrei mit Soße«, versüßte meine Mutter, die meine verhaltene Reaktion spürte, das Angebot.
»Ach je, eigentlich habe ich noch viel zu tun«, sagte ich.
»Und zum Nachtisch gestürzter Ananaskuchen«, holte meine Mutter die Wunderwaffe hervor. »Mit Schlagsahne.«
Damit würde sie mich kriegen. Nie im Leben hätte ich gestürzten Ananaskuchen mit Schlagsahne abgelehnt.
Ich sah auf die Uhr. »Ich könnte in zwanzig Minuten da sein. Aber ich komme etwas später. Fangt ruhig schon ohne mich an.«
Alle saßen schon am Tisch, als ich kam.
Meine Schwester Valerie saß einen halben Meter von der Tischkante entfernt, damit ihr Strandballbauch Platz hatte.
Vor einigen Wochen hatte sie angefangen, den Bauch als Ablage zu benutzen, stellte ihren Teller darauf ab, stopfte sich die Serviette in den Ausschnitt ihres T-Shirts und fing die Essensreste mit ihren riesigen angeschwollenen Brüsten auf. An die dreißig Kilo hatte sie zugenommen, sie bestand fast nur noch aus Titten und Doppelkinn und Schwabbelarmen. Unerhört für Valerie, die vor ihrer Scheidung immer die perfekte Tochter gewesen war, in jeder Hinsicht zu vergleichen mit der friedlichen, schlanken Jungfrau Maria, Jungfräulichkeit und Frisur möglicherweise ausgenommen. Die Frisur erinnerte eher an Meg Ryan.
An ihrer Seite war Albert Kloughn, das Gesicht rund und rosa, unter dem fast ausgedünnten blonden Haar schimmerte der Schädel hervor. Er betrachtete Valerie mit unverfrorener Bewunderung und Zuneigung. Kloughn war kein diskreter Mensch. Er hatte keine Ahnung, wie man Gefühle im Zaum hielt. Im Gerichtssaal war er wahrscheinlich nicht der Beste, am Esstisch dagegen war es immer lustig mit ihm. Und auf seine kauzige Art war er erstaunlich liebenswert.
Valeries beide Töchter aus ihrer ersten und einzigen Ehe, Angie und Mary Alice, hockten vorne auf der Stuhlkante und hofften auf irgendeine Katastrophe … Grandma Mazur, die das Tischtuch abfackelte, oder Albert Kloughn, der sich heißen Kaffee in den Schoß schüttete.
Grandma Mazur süffelte zufrieden ihr zweites Glas Wein. Meine Mutter saß am Kopfende des Tisches, nüchtern und streng, bereit, sich mit jedem anzulegen, der an ihrem Hühnchen etwas auszusetzen hatte. Mein Vater schaufelte sich das Essen in den Mund und nahm mein Erscheinen mit einem Grunzen zur Kenntnis.
»In der Zeitung stand, in Albany würden Außerirdische von einer fremden Galaxie alle guten Immobilien aufkaufen«, sagte Grandma.
»Da kriegen sie ordentlich Steuern aufgebrummt«, sagte Kloughn zu ihr. »Lieber sollten sie sich Immobilien in Florida oder Texas kaufen.«
Mein Vater hob nie den Kopf, dafür huschte sein Blick jetzt zuerst hinüber zu Kloughn, dann zu Grandma Mazur. Er brummte irgendwas, zu leise, um es zu verstehen, aber vermutlich war es etwas aus der Kategorie
Du lieber Himmel!
Mein Vater ist pensionierter Postangestellter, jetzt fährt er halbtags Taxi. Als meine Oma zu meinen Eltern zog, hatte meine Mutter aufgehört, das Rattengift in der Garage zu deponieren. Nicht, dass mein Vater auf die Idee verfallen wäre, meine Oma zu vergiften – aber warum das Schicksal herausfordern? Lieber das Rattengift im Haus ihrer Kusine Betty lagern.
»Als Außerirdische würde ich sowieso lieber in Florida wohnen«, sagte Grandma. »In Florida gibt es Disney World. Was hat Albany schon zu bieten?«
Valerie sah aus, als wollte sie jeden Moment das Baby auf den Boden im Esszimmer plumpsen lassen. »Kann mir nicht einer eine Pistole besorgen?«, sagte sie. »Ich bringe mich um, wenn nicht bald die Wehen einsetzen. Und reich mir bitte einer die Soße. Aber sofort.«
Meine Mutter sprang vom Stuhl auf und reichte Valerie die Soßenschüssel.
Weitere Kostenlose Bücher