Reine Glückssache
»Manchmal sind die Wehen kaum spürbar«, sagte sie. »Könnte es sein, dass du diese kaum spürbaren Wehen hast?«
Valerie konzentrierte sich voll und ganz auf die Soße. Sie goss Soße über den ganzen Teller, über Gemüse, Apfelmus, Hühnchen, Dressing und einen Berg Brötchen. »Soße esse ich für mein Leben gern«, sagte sie, löffelte die überlaufende Flüssigkeit auf und verschlang die Soße wie Suppe. »Ich träume schon von Soße.«
»Der Anteil gesättigter Fettsäuren ist ein bisschen hoch«, sagte Kloughn.
Valerie sah Kloughn schräg von der Seite an. »Willst du mir einen Vortrag über richtige Ernährung halten?«
Kloughn richtete sich auf, die Augen weit aufgerissen, vogelartig. »Ich? Nein, ehrlich, so was würde ich nie tun. Ich mag dicke Frauen. Gestern habe ich noch gedacht, dass dicke Frauen so schön weich sind. Nichts lieber als dicke, weiche Fettpolster.«
Emsig schüttelte er den fast kahlen Kopf, die heraufziehende Panikattacke abzuwehren.
»Sieh mich an. Ich bin auch dick und fett. Wie das Knack-und-Back-Männchen von Pillsbury. Pieks mich ruhig in den Bauch. Ich bin wie das Knack-und-Back-Männchen«, sagte Kloughn.
»Schreck, lass nach«, jammerte meine Schwester. »Findest du mich dick?« Sie fing an hemmungslos zu schluchzen, und der Teller rutschte von ihrem Bauch herunter und fiel krachend zu Boden.
Kloughn bückte sich, um die Scherben aufzusammeln, und furzte dabei. »Das war ich nicht«, sagte er.
»Vielleicht war ich das«, sagte Grandma. »Manchmal entweichen sie einfach, diese Fürze. War ich das?«, fragte sie alle am Tisch.
Mein Blick wanderte unwillkürlich zur Küchentür.
»Untersteh sich einer«, sagte meine Mutter. »Wir sitzen alle im gleichen Boot. Wenn sich hier einer wegstehlen will, kriegt er es mit mir zu tun.«
Als der Tisch abgeräumt und das Geschirr gespült war, machte ich mich ans Gehen.
»Kann ich dich mal sprechen?«, fragte mich meine Mutter, folgte mir nach draußen vors Haus auf den Bürgersteig, wo wir ungestört waren.
Der untere Rand der Sonne war bereits hinter dem Asbestziegeldach der Krienskis verschwunden, sicheres Anzeichen dafür, dass der Tag sich dem Ende zuneigte. Kinder liefen in Rudeln herum, verbrannten den letzten Rest Energie. Eltern und Großeltern hockten auf den Vorderveranden. Es wehte kein Hauch, und in der Luft hing das Versprechen, dass es morgen wieder ein heißer Tag werden würde. Grandma und mein Vater klebten im Wohnzimmer vor dem Fernseher, das gedämpfte Lachen vom Band in der Vorabendserie schallte nach draußen und vermischte sich mit dem Straßenlärm.
»Deine Schwester macht mir Sorgen«, sagte meine Mutter. »Was soll nur aus ihr werden? In zwei Wochen ist das Kind da, und sie ist ohne Mann. Ich finde, sie sollte Albert heiraten. Red du doch mal mit ihr.«
»Ich werde mich hüten! Erst strahlt sie übers ganze Gesicht und verkündet, dass sie mich über alles liebt, und dann plötzlich zieht sie eine Schnute. Ich möchte die alte Valerie wiederhaben. Die schlichte Valerie. Außerdem bin ich keine Expertin in Ehefragen. Sieh mich an … Ich kriege ja nicht mal mein eigenes Leben in den Griff.«
»Ist das zu viel verlangt? Ich will doch nur, dass du mal mit ihr redest. Mach ihr klar, dass sie ein Kind erwartet.«
»Mom! Dass sie ein Kind erwartet, weiß sie auch so. Sie ist kugelrund wie ein VW-Käfer. Sie hat schon zweimal ein Kind gekriegt.«
»Ja, aber das war beide Male in Kalifornien. Das ist nicht das Gleiche. Und damals hatte sie einen Mann. Und ein Haus.«
Ach so, daher wehte also der Wind. »Es geht also darum, dass nicht genug Platz im Haus ist.«
»Ich komme mir vor wie die alte Frau, die in einem Schuh wohnt. Erinnerst du dich an das Gedicht? Sie hatte so viele Kinder, sie wusste nicht wohin damit. Noch einer mehr in unserem Haus, und wir müssen in Schichten schlafen. Dein Vater redet schon davon, sich für den Garten so eine Chemietoilette zu mieten. Und es geht ja nicht nur um das Haus. Wir wohnen hier in Burg. Da kriegen unverheiratete Frauen nicht einfach Kinder von irgendwelchen Kerlen. Jeden Tag treffe ich irgendeinen Bekannten beim Einkaufen, der wissen will, wann Valerie nun endlich heiratet.«
Mir kam das sehr gelegen. Früher wollten die Leute immer von mir wissen, wann ich denn nun endlich heirate.
»Sie ist in der Küche und isst den Rest vom Kuchen«, sagte meine Mutter. »Wahrscheinlich mit Soße. Geh rein und red mit ihr. Sag ihr, Albert Kloughn ist ein guter Mann
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