Reinlich & kleinlich?! - wie die Deutschen ticken
Geschichte der Bundesrepublik auf das geizigste Volk trifft? „Wutbürger“ wird zum Wort des Jahres. Die Neuschöpfung sei entstanden, „um einer Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck zu geben, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden“, schrieb die Gesellschaft für deutsche Sprache in ihrer Begründung [21] und wählte „Stuttgart 21“ und das „Sarrazin-Gen“ auf die Plätze zwei und drei, das „Schottern“ von Castor-Gleisen landete auf Rang sieben. Vier von zehn ausgesuchten Wörtern hatten damit direkt mit dem Aufbegehren der Deutschen gegen Politik zu tun.
Was für eine Zäsur, welcher Mentalitätswandel!
Hatten die Bundesbürger seit dem Abflauen der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung ihren Frust sehr still durch eine immer weiter sinkende Beteiligung an Bundestags- und Landtagswahlen zum Ausdruck gebracht, so standen sie jetzt plötzlich wieder auf. Dagegen sein, auch sonst keine wirklich undeutsche Eigenschaft, wurde zur Tugend, Mit- und Volksbestimmung zum Gebot der Stunde.
Der ganz normale Durchschnitts-Baden-Württemberger kämpfte gegen einen unterirdischen Bahnhof, als sei die Idee erst 2010 und nicht schon 1994 der Öffentlichkeit vorgestellt worden; in Bayern setzten Bürger ein Nichtraucherschutzgesetz durch, gegen das die Prohibition im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts wie ein „Eltern haften für ihre Kinder“-Schild wirkt. Und die Hamburger kippten 2010 erst die von nahezu allen politischen Parteien geplante Schulreform und dann den kompletten Senat.
Nicht, dass die Deutschen nicht schon immer mit der Faust in der Tasche herumgelaufen wären ob der Entscheidungen „von denen da oben“. Aber spätestens 2010 haben sie sie rausgeholt. Der Wutbürger ist insofern eine logische Fortentwicklung des schimpfenden, sich beschwerenden, von schlimmen Zukunftsängsten getriebenen Deutschen. Er meckert und buht, kettet sich an Eisenbahnschienen und gründet Bürgerinitiativen. Ja, er schafft sogar das Unmögliche: Der Wutbürger setzt gegen den Willen der herrschenden Parteien neue Wahlsysteme durch, um sich dann hinterher genau über diese zu ärgern.
So geschehen in Hamburg, dem offensichtlichen Zentrum der Bewegung. Als dort im Februar 2011 überraschend und vorzeitig ein neuer Senat gewählt werden musste, empörten sich nicht wenige über die wie kleine Zeitschriften daherkommenden Wahlunterlagen. Jedes Heft hatte eine andere Farbe und eine andere Funktion, aber alle enthielten nicht enden wollende Namenskolonnen, hinter denen sich Kreise aneinanderreihten wie sonst nur im Logo eines großen deutschen Autoherstellers. Weil das alles so kompliziert und die gewohnte Erst- und Zweitstimmen-Kombination durch insgesamt 20 zu vergebende Stimmen ersetzt worden war, verschickte die Stadt die Hefte zum Probewählen sogar vorab an alle Haushalte.
„Wer hat sich denn das ausgedacht?“, fragte ausgerechnet ein Journalist aus Baden-Württemberg den späteren Bürgermeister Olaf Scholz wenige Tage vor der Wahl.
„Dieses Wahlsystem“, sagte Scholz knapp, „ist das Ergebnis eines Volksentscheids.“
Man könnte echt wütend werden.
Der Humor der Deutschen
Eltern haften für ihre Kinder
Grundsätzlich gibt es zwei Arten, auf die sich das Zusammenleben von Menschen organisieren lässt. Entweder gibt man jedem Einzelnen die Freiheit, sich so zu entfalten, wie er das will. Oder man sagt ihm ganz genau, was er tun und vor allem, was er lassen soll.
Wir Deutschen haben uns für die zweite Variante entschieden.
Allein an unseren Straßen gibt es rund 20 Millionen Ge- und Verbotsschilder, durchschnittlich alle 28 Meter eins. [22] Das dürfte für einen Weltrekord reichen.
Gründlich, wie wir Deutschen nun einmal sind, setzen wir aber noch einen drauf. Was heißt einen? Unzählige weitere Hinweisschilder nehmen uns jeden Tag das Denken ab. Das beginnt morgens in der Toilette, wo die eigene Frau dankenswerterweise den Aufkleber mit dem nackten Männchen angebracht hat, das nur im Sitzen pinkelt. Es geht weiter in Bus („Bitte den Fahrer während der Fahrt nicht ansprechen!“) und Bahn („Tür nur im Notfall öffnen!“) auf dem Weg zur Arbeit. Auch dort ist alles ausführlich beschildert, die Anweisungen reichen von „Verlassen Sie die Toilette so, wie Sie sie vorgefunden haben“ über „Fahrstuhlbenutzung nur für Besucher“ bis „Benutztes Geschirr ausschließlich in den dafür vorgesehenen Geschirrwagen abstellen“. Wer den Fehler
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