Reise im Mondlicht
wollen dürfte.
Ob er wirklich noch zu sterben wünschte? Ob er sich noch nach Tamás’Tod sehnte? Er beschwor diese Sehnsucht herauf und suchte
die mit ihr einhergehende Süße. Doch da war keine Süße, sondern im Gegenteil Ekel und Müdigkeit, wie nach dem Liebemachen.
Dann wurde ihm bewußt, warum er diesen Ekel empfand. Sein Wunsch war ja befriedigt. In der vergangenen Nacht, im italienischen
Haus, hatte er in seiner Angst den Todeswunsch, der ihn seit der Jugend heimsuchte, zu Wirklichkeit werden lassen. Wenn auch
nicht zu äußerer Wirklichkeit, so doch zu einer seelischen. Und damit war der Wunsch, vielleicht nicht für immer, aber für
lange Zeit befriedigt, und er war ihn los, so wie er auch Tamás’ Geist losgeworden war.
Und Éva?
Er bemerkte einen Brief auf seinem Schreibtisch. Jemand hatte ihn dorthin gelegt, während er beim Mittagessen gewesen war.
Bestimmt war er am Vorabend gekommen, und die Nachbarsfrau hatte vergessen, ihn herüberzubringen. Er stand auf und las Évas
Abschiedsworte:
»Mihály, wenn Du das liest, bin ich schon unterwegs nach Bombay. Ich komme nicht zu Dir. Du wirst nicht sterben. Du bist nicht
Tamás. Sein Tod war nur für ihn bestimmt, jeder soll seinen eigenen suchen. Lebe wohl, Éva.«
Am Abend saßen sie tatsächlich in der Eisenbahn. Sie redeten über geschäftliche Belange, sein Vater erzählte, was in Mihálys
Abwesenheit in der Firma vorgefallen war und wie es um die Aussichten stand und welchen neuen Tätigkeitsbereich er Mihály
anvertrauen wollte.
|256| Mihály hörte ihm zu. Er war unterwegs nach Hause. Wieder würde er versuchen, was ihm fünfzehn Jahre lang nicht gelungen war:
sich anzupassen. Jetzt würde es vielleicht gelingen. Das war sein Schicksal. Er ergab sich darein. Die Tatsachen waren stärker.
Man entkam ihnen nicht. Sie sind immer stärker, die Väter, die Zoltáns, die Firmen, die Menschen.
Sein Vater schlief ein, und er starrte zum Fenster hinaus, wobei er versuchte, im Mondlicht die Umrisse der toskanischen Hügel
auszumachen. Man mußte am Leben bleiben. Auch er würde leben, wie die Ratten in den Ruinen. Aber immerhin leben. Und solange
man lebt, weiß man nicht, was noch geschehen kann.
|257| Und solange man lebt…
Ein Nachwort von Péter Esterházy
Werfen wir einen Blick auf das Foto des Autors. Strenge Brille, intelligente Stirn,so sehen Literaturprofessoren aus.Das war
er auch. (Oder doch nicht? Vielleicht doch eher der ewige Outsider?) Er hat geniale Bücher über die Geschichte der ungarischen
Literatur und der Weltliteratur geschrieben, noch heute büffelt der Abiturient in ihnen, und der Vater des Abiturienten blättert
immer wieder darin, als wären es Romane. Diese beiden Bücher,
Geschichte der ungarischen Literatur
und
Geschichte derWeltliteratur
, sind in Ungarn so populär, daß sie hin und wieder den Romanautor verdecken. Er selbst hat das gespürt und in seinem Tagebuch
geschrieben: »Unangenehm, wenn man von mir sagt, ich sei ein Literaturhistoriker. Ich bin ein Schriftsteller, dessen Thema
vorübergehend die Literaturgeschichte war.«
»Es ist ein geheimnisvoll heiteres Gesicht, ein beunruhigend unschuldiges Augenpaar«, schreibt ein Kritiker, und tatsächlich
ist in dem konventionellen Professorenporträt etwas »Unzuverlässiges«.
Ich kenne eine Frau – ich könnte gleich mehrere Nachworte über sie schreiben –, die gesagt hat,
Reise im Mondlicht
sei für sie wie eine bunte Glaskugel, die je nach Lichteinfall anders aussieht. Als sie ihn mit vierzehn gelesen habe, sei
sie von der italienischen Rundreise begeistert gewesen, und ja, es ist schon so, als reisten wir mit Mihály im Land umher
und suchten – was denn sonst – natürlich uns selbst! Mit vierundzwanzig sei sie vom Todesthema angezogen gewesen, da sie den
Tod nicht fürchtete, mit vierunddreißig habe sie an den vielen plastisch herausgearbeiteten Figuren ihre Freude gehabt, an
Vannina, dem mageren römischen Mädchen, das einen zu durchschauen scheint (und auch noch |258| große Brüste hat), an Szepetneki, dem Schaumschläger, der dennoch Überraschungen auf Lager hat, an dem geheimnisvollen Perser,
der einem notdürftig gezähmten Tiger(!) gleicht, und so weiter. Und dann habe sie das Buch mit vierundvierzig noch einmal
gelesen, um jetzt auf die Sprache aufmerksam zu werden, dieses elegante, melodiöse, geistreiche, leichte Instrument.
Antal Szerb zählt zu den großen
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