Reise im Mondlicht
phosphoreszierten. Doch
jetzt, da er an seine Eltern dachte, spürte er einen scharfen Schmerz, einen starken, klaren Schmerz, der Nebel lichtete sich,
er begann seine Eltern zu bemitleiden, und sich selbst auch, in dummer, sentimentaler Schwäche. Er schämte sich, nahm den
Füllfeder, um mit beispielhafter Disziplin und Gelassenheit, aber dennoch in warmen Worten seine Tat zu verkünden, ruhig und
überlegen und todesroutiniert.
Wie er so mit der Füllfeder in der Hand dasaß und darauf wartete, daß ihm die beispielhaft disziplinierten Sätze einfielen,
klingelte es. Er zuckte heftig zusammen. Wochenlang kam niemand, |242| wer mochte es ausgerechnet jetzt sein? Unnennbare Ahnungen durchliefen ihn einen Augenblick lang. Die Frau des Hauses war
nicht da. Nein, er würde nicht aufmachen, jetzt hatte es wirklich keinen Sinn mehr, er hatte mit niemandem mehr etwas zu tun.
Das Klingeln wurde stärker und ungeduldiger. Mihály zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen: »Was kann ich machen, wenn
die so hartnäckig sind«– und ging hinaus. Ein bißchen erleichtert war er schon.
In der Tür erblickte er zu seiner größten Überraschung Vannina und noch ein Mädchen. Sie waren hochfestlich gekleidet, mit
einem schwarzen Seidenschal auf dem Kopf, und gründlich gewaschen.
»Ah«, sagte Mihály, »sehr erfreut«, und er begann ein längeres Gestotter, weil er überhaupt nichts begriff und zuwenig Italienisch
konnte, um seine Verlegenheit zu bemänteln.
»Also, kommen Sie, Signore«, sagte Vannina.
»Ich? Wohin?«
»Na eben, zur Taufe.«
»Was für eine Taufe?«
»Na eben, zur Taufe des bambino meiner Cousine. Haben Sie meinen Brief nicht bekommen?«
»Nein. Sie haben mir geschrieben? Woher hatten Sie meinen Namen und meine Adresse?«
»Von Ihrem Freund. Da bitte, da steht’s aufgeschrieben.«
Sie streckte ihm einen zerknitterten Zettel entgegen, und Mihály erkannte Szepetnekis Schrift. »Rund ist der Kohl«, stand
darauf und darunter Mihálys Adresse.
»An diesen Namen haben Sie geschrieben?« fragte er.
»Ja. Komischer Name. Haben Sie den Brief nicht bekommen?«
»Nein, ich schwör’s, ich verstehe das Ganze nicht. Aber treten Sie doch näher.«
Sie gingen ins Zimmer. Vannina blickte sich um und fragte:
»Die Signora ist nicht zu Hause?«
»Nein, ich habe keine Signora.«
»Wirklich? Es wäre ganz nett, noch ein bißchen zu bleiben … Aber der bambino muß getauft werden, kommen Sie, kommen |243| Sie rasch. Die Leute versammeln sich schon, und man darf den Priester nicht warten lassen.«
»Aber, Liebe … ich … ich habe Ihren Brief nicht bekommen, was mir sehr leid tut, und ich bin überhaupt nicht darauf vorbereitet, heute …«
»Ja, schon, aber macht nichts. Sie haben sowieso nichts zu tun, der Ausländer hat nie was zu tun. Nehmen Sie Ihren Hut, und
kommen Sie, avanti.«
»Aber ich habe durchaus zu tun … Ungeheuer viel und Wichtiges zu tun.«
Er verdüsterte sich.Alles kam ihm wieder in den Sinn,und er sah die fürchterliche Alltäglichkeit der Situation.Mitten im Schreiben
des Abschiedsbriefs wird er dadurch gestört, daß man ihn zu einer Taufe holt. Auf einmal taucht man bei ihm mit solchen netten,
törichten Anliegen auf: so wie man bei ihm immer mit netten, törichten Anliegen auftauchte, wenn das Leben gerade schrecklich
erhaben war, während ihm immer schrecklich erhabene Dinge auf den Kopf fielen, wenn das Leben gerade nett und töricht war.
Das Leben ist keine Kunstgattung, oder zumindest eine sehr gemischte.
Vannina trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Was haben Sie Wichtiges zu tun?«
»Äh … Ich muß Briefe schreiben, sehr wichtige Briefe.«
Vannina blickte ihm in die Augen, Mihály wandte verlegen den Kopf ab.
»Für Sie ist es auch besser, wenn Sie jetzt mitkommen«, sagte das Mädchen. »Nach der Taufe gibt es bei uns ein großes Festessen.
Sie werden ein bißchen Wein trinken, und dann können Sie Ihre Briefe immer noch schreiben, falls Sie überhaupt noch Lust dazu
haben.«
Mihály blickte sie erstaunt an, und das Wahrsagetalent des Mädchens kam ihm in den Sinn. Er hatte das Gefühl, sie durchschaue
ihn.Plötzlich schämte er sich wie ein kleiner Junge,der auf frischer Tat ertappt worden war. Er sah nichts Erhabenes mehr
darin, daß er hatte sterben wollen. Wie immer gehorchte er dem mächtigeren Herrn, dem Alltag. Den Priester durfte man in der
Tat nicht |244| warten lassen … Er
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