Reise im Mondlicht
folgenden Jahren hätte ich noch ein-, zweimal die Gelegenheit dazu gehabt.
Hin und wieder kreuzte János auf und machte dunkle Anspielungen, daß er eventuell ein Treffen mit Éva arrangieren könnte,
natürlich gegen ein entsprechendes Entgelt. Doch ich mochte Éva |55| nicht mehr treffen; deshalb hat János heute gesagt, ich sei selber schuld, wenn ich von meiner Jugend abgeschnitten sei, ich
hätte bloß die Hand auszustrecken brauchen … Da hat er recht. Als Tamás starb, dachte ich, ich würde wahnsinnig – und dann beschloß ich, mich zu ändern, mich von diesem
Bann loszureißen, um nicht zu enden wie er, sondern ein anständiger Mensch zu werden. Ich verließ die Universität, lernte
das Métier meines Vaters, ging ins Ausland, um noch dazuzulernen, und dann kehrte ich nach Hause zurück und gab mir Mühe zu
sein wie die anderen Menschen.
Hingegen war mir das Ulpius-Haus nicht umsonst dem Untergang geweiht erschienen – es ist alles untergegangen, nichts ist geblieben.
Der alte Ulpius lebte danach nicht mehr lange. Er wurde zusammengeschlagen, auf dem Heimweg aus einer Vorstadtkneipe. Das
Haus war schon zuvor von einem reichen Herrn Munk gekauft worden, einem Geschäftsfreund meines Vaters. Ich war sogar einmal
bei ihnen, fürchterlich … Sie haben das Haus wundervoll eingerichtet, so daß es viel älter geworden ist. In der Mitte des Hofs steht ein echter Florentiner
Brunnen. Aus dem Zimmer des Großvaters ist ein altdeutsches Eßzimmer mit Eichenmöbeln geworden. Und unser Zimmer … ach Gott, das haben sie als altungarisches Gasthaus oder so was eingerichtet, mit tulpenbemalten Truhen, Krügen und Kinkerlitzchen.
Das Zimmer von Tamás! Das nennt sich Vergänglichkeit … Gütiger Himmel, ist es spät! Sei mir nicht böse, Liebes, einmal mußte ich es erzählen … auch wenn es für Außenstehende vielleicht dumm klingt … na, aber jetzt gehe ich ins Bett.«
»Mihály, du hast versprochen zu erzählen, wie Tamás Ulpius gestorben ist. Aber du hast es nicht erzählt, auch nicht, warum
er gestorben ist.«
»Ich habe es nicht erzählt, weil ich es nicht weiß. Und warum er gestorben ist? Hm. Naja, er war wohl lebensmüde, oder? Man
kann des Lebens sehr müde werden, nicht?«
»Nein. Aber laß uns schlafen. Es ist wirklich sehr spät.«
|56| 5
Mit Florenz hatten sie kein Glück. Es regnete die ganze Zeit. Sie standen in ihren Regenmänteln vor dem Dom herum,und Mihály
mußte plötzlich lachen. Er hatte mit einemmal die ganze Tragödie dieser Kirche verstanden. Daß sie in unvergleichlicher Schönheit
dasteht, und niemand nimmt sie ernst. Sie ist zu einem touristischen und kunsthistorischen Kulturgut geworden, und niemand
glaubt ihr mehr, daß sie zum Ruhme Gottes und der Stadt dasteht. Sie fuhren nach Fiesole hinauf und sahen zu, wie ein Gewitter
mit wichtigtuerischer Geschwindigkeit über die Berge gerannt kam, um sie noch rechtzeitig zu erreichen. Sie flüchteten ins
Kloster und schauten sich das alte fernöstliche Sammelsurium an, das die biederen Fratres im Lauf der Jahrhunderte von den
Missionen nach Hause gebracht hatten. Mihály bewunderte lange eine chinesische Bildserie, wobei er eine Weile brauchte, bis
er herausbekam, was sie darstellte. Im oberen Teil eines jeden Bilds thronte ein wütender, schrecklicher Chinese, vor sich
ein großes Buch. Sein Gesicht war besonders wegen der gesträubten Haare an den Schläfen so furchterregend. Im unteren Teil
der Bilder geschahen schauderhafte Dinge: Menschen wurden mit Eisengabeln in eine unangenehm aussehende Flüssigkeit geworfen,
einigen wurden gerade die Beine abgesägt, einem anderen zog man sorgfältig die strickartigen Eingeweide heraus, und an einer
Stelle fuhr ein automobilartiges Vehikel, das von einem ebenfalls gesträubthaarigen Unhold gelenkt wurde, in eine Menge hinein,
wobei die vorn an der Maschine angebrachten, rotierenden Beilklingen die Menschen auftranchierten.
Mihály begriff, daß es sich um ein Jüngstes Gericht handelte, so wie es sich ein chinesischer Christ vorstellte. Welche Fachkenntnis,
welche Sachlichkeit!
|57| Ihm wurde schwindlig, und er ging auf den Platz hinaus. Die Landschaft, die von der Eisenbahn aus, zwischen Bologna und Florenz,
so zauberhaft gewesen war, sah jetzt naß und unsympathisch aus, wie eine Frau, die sich die ganze Schminke weggeweint hat.
Als sie wieder in der Stadt unten waren, ging Mihály zur Hauptpost;seit sie Venedig
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