Reise im Mondlicht
wäre ich vom ersten Augenblick an betrunken gewesen. Tamás trank sehr wenig, aber die allgemeine Weltuntergangsstimmung
entsprach seinem Seelenzustand so genau, daß er sich mit ungewohnter Lockerheit unter den Menschen und den Zigeunermusikanten
bewegte. Er und ich redeten viel in jener Nacht, das heißt, wir redeten wenig mit Worten, aber was wir sagten, hatte eine
ungeheure gefühlsmäßige Resonanz, und wir verstanden uns von neuem ausgezeichnet, am Rand des Abgrunds. Und auch mit den merkwürdigen
Mädchen verstanden wir uns sehr gut, ich jedenfalls hatte das Gefühl, meine populärreligionsgeschichtlichen Ausführungen über
Kelten und Toteninseln lösten bei der Schauspielschülerin, die meistens neben mir |51| saß, ein lebhaftes Echo aus. Dann setzte ich mich mit Éva irgendwo abseits und machte ihr den Hof, als ob ich sie nicht seit
ihrer mageren, großäugigen Backfischzeit kannte, und auch sie nahm meine Huldigung mit vollem fraulichem Ernst entgegen, mit
halben Sätzen und Blicken in die Weite, in der ganzen Glorie ihrer damaligen Pose.
Gegen Morgen wurde mir gräßlich schlecht, und als ich danach etwas nüchterner war, merkte ich, daß meine goldene Uhr fehlte.
Ich war über alle Maßen verstört, geradezu ekstatisch verzweifelt. Versteh mich recht: Der Verlust einer goldenen Uhr ist
an sich kein so großes Unglück, auch dann nicht, wenn man zwanzig ist und auf der Welt keinen anderen Wertgegenstand besitzt.
Doch wenn man zwanzig ist und im Morgengrauen nüchtern wird, nur um zu merken, daß einem die Uhr gestohlen wurde, so ist man
geneigt, diesem Verlust eine symbolische Bedeutung zuzuschreiben. Die Uhr hatte ich von meinem Vater bekommen, der sonst kein
besonders schenkfreudiger Mensch war. Wie gesagt, das war mein einziger Wertgegenstand gewesen, mein einziger nennenswerter
persönlicher Besitz, der zwar mit seiner klotzigen, protzigen Spießigkeit für mich immer all das repräsentiert hatte, was
ich so gar nicht mochte, dessen Verlust aber jetzt, da er symbolische Bedeutung annahm, mich mit panischem Schrecken erfüllte.
Ich hatte das Gefühl, nunmehr endgültig den Mächten der Unterwelt verfallen zu sein, nachdem man mir die Möglichkeit gestohlen
hatte, doch noch einmal nüchtern zu werden und in die bürgerliche Welt zurückzukehren.
Ich wankte zu Tamás hin, um ihm von dem Uhrdiebstahl Mitteilung zu machen, ich sagte, ich wolle die Polizei rufen, und der
Gastwirt müsse die Tore abschließen, und alle Gäste sollten durchsucht werden.
Tamás beruhigte mich auf seine Art:
›Lohnt sich nicht. Laß es. Klar, daß sie gestohlen worden ist. Dir wird man alles stehlen. Du wirst immer das Opfer sein.
Das willst du ja.‹
Ich starrte ihn überrascht an, aber dann sagte ich tatsächlich niemandem etwas von der Uhr. Denn während ich Tamás angestarrt |52| hatte, war mir plötzlich klargeworden, daß nur János Szepetneki die Uhr hatte stehlen können. Im Lauf des Abends hatte es
irgendwie einen Ulk mit Verkleidungen gegeben, Szepetneki und ich hatten Jacke und Krawatte getauscht, und wahrscheinlich
hatte ich danach die Jacke ohne Uhr zurückbekommen. Ich suchte János, um ihn zur Rede zu stellen, aber er war schon weg. Auch
am nächsten und übernächsten Tag war er verschwunden.
Und am vierten Tag fragte ich der Uhr nicht mehr nach. Ich hatte begriffen, daß János, falls er es wirklich gewesen war, sie
gestohlen hatte, weil Éva Geld brauchte. Und wahrscheinlich hatte Éva davon gewußt, denn der ganze Verkleidungs-Ulk war ihre
Idee gewesen – und die Szene, da ich mit ihr zusammensaß, sollte vielleicht verhindern, daß ich das Verschwinden der Uhr gleich
bemerkte. Als mir diese Möglichkeit einfiel, fand ich mich mit der Sache ab. Wenn sie um Évas willen geschehen war, dann war
ja alles gut. Dann gehörte auch das zum Spiel, zu einem der alten Spiele des Ulpius-Hauses.
Von da an war ich verliebt in Éva.«
»Aber bisher hast du doch energisch bestritten, je in sie verliebt gewesen zu sein«, sagte Erzsi.
»Klar. Stimmt auch. Ich nenne das, was ich für Éva empfand, nur mangels eines besseren Wortes Verliebtheit. Dieses Gefühl
glich in keiner Weise den Gefühlen, wie ich sie für dich habe, und, verzeih, für ein, zwei Vorgängerinnen von dir hatte. Es
war irgendwie die genaue Verkehrung dieser Gefühle. Dich liebe ich, weil du zu mir gehörst, sie liebte ich, weil sie nicht
zu mir gehörte – meine Liebe für dich gibt mir
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