Reise im Mondlicht
zur Schule. Eines Tages liege ich im Bett – ich hatte die
Grippe – und starre zum Fenster hinaus. Plötzlich steht mein Vater auf dem Fenstersims, in seiner Marineuniform, und salutiert.
Seltsam war nur, daß an seiner Offiziersmütze zwei Flügel waren. So wie bei |88| Merkur.Ich sprang aus dem Bett und machte das Fenster auf.Doch da war er weg. Das geschah an einem Nachmittag. Am Morgen desselben
Tags war mein Vater am Skagerrak gefallen. So lange hatte die Seele gebraucht, um von dort nach Harrow zu fliegen.«
»Und die andere Geschichte?«
»Die ist viel geheimnnisvoller, sie ist in Gubbio passiert, vor gar nicht langer Zeit. Aber die kann ich jetzt wirklich nicht
erzählen.«
»Gubbio? Warum kommt mir der Name so bekannt vor?«
»Wahrscheinlich wegen der Franziskus-Legende aus den
Fioretti
.«
»Natürlich, der Wolf von Gubbio … mit dem der Heilige Franziskus einen Pakt schließt, damit er die Bewohner der Stadt nicht behelligt, dafür soll er aber
mit dem Nötigen versorgt werden …«
»Und abends kann man den Wolf sehen, wie er mit einem kleinen Korb um den Hals bei den Häusern von Gubbio vorbeigeht, um der
Reihe nach die Liebesgaben einzusammeln.«
»Und Gubbio gibt es immer noch?«
»Sicher, es ist hier in der Nähe. Besuchen Sie es dann, wenn Sie gesund sind. Es lohnt sich, nicht nur wegen der Geschichte
mit dem Wolf …«
Sie sprachen auch viel von England, der anderen Heimat des Dr. Ellesley, nach der er sich sehnte. Auch Mihály liebte England. Er hatte dort zwei sehr ernste, verträumte Jahre verbracht,
bevor er nach Paris und dann nach Hause ging. In London hatte er in einer Orgie des Alleinseins geschwelgt, hatte manchmal
wochenlang mit niemandem geredet, außer mit den Arbeitern in den Pubs der Vorstädte, und auch mit denen nur ein paar Worte.
Er hatte das schauderhafte Londoner Klima gemocht, jene nasse, gedunsene, neblige Weichheit, in der man so gut versinken kann
und die so getreulich das Alleinsein und den Spleen umfängt.
»Der Londoner November ist kein Monat, sondern ein Seelenzustand.«
Ellesley pflichtete bei.
»Sehen Sie, jetzt fällt mir ein«, sagte Mihály, »daß ich im Londoner November auch einmal etwas erlebt habe,das einen Menschen
wie Sie bestimmt im Glauben an das Leben der Toten bestärkt |89| hätte. Mich hat es nur im Gefühl bestärkt, daß mit meinen Nerven etwas nicht in Ordnung ist. Hören Sie. Eines Vormittags bin
ich bei der Arbeit in der Fabrik (wie gesagt, es war November), und da werde ich ans Telephon gerufen. Eine unbekannte weibliche
Stimme bittet mich, am Nachmittag unbedingt, in einer äußerst wichtigen Angelegenheit, da und dahin zu kommen – und sie nennt
eine mir unbekannte Adresse und einen Namen. Ich sage, da liege bestimmt ein Irrtum vor. ›Nein‹, sagt die Frauenstimme, ›ich
suche einen ungarischen Gentleman, der in den Buthroyd-Werken als Volontär arbeitet – gibt es dort mehrere solche?‹ Nein,
sage ich, und auch mein Name stimmt. Aber sie solle doch sagen, worum es geht. Nein, das könne sie nicht … So redeten wir lange hin und her, am Ende versprach ich hinzugehen. Das habe ich dann auch getan, denn ich war neugierig.Wo
gibt es schon den Mann, den eine angenehme Frauenstimme am Telephon nicht in Schwung bringt? Wenn die Frauen die Männer kennten,
würden sie von ihnen alles telephonisch und unbekannterweise verlangen. Die genannte Straße – die Roland Street – lag in dem
unsympathischen Teil Londons, hinter der Tottenham Court Road, nördlich von Soho –, wo die Künstler und die Prostituierten wohnen, die es nicht einmal nach Soho oder Bloomsbury geschafft haben. Ich bin nicht
sicher, halte es aber für sehr wahrscheinlich, daß hier die Sektengründer, die Gnostiker und die bescheideneren Spiritisten
zu wohnen pflegten. Dahin war ich also bestellt. Sie müssen wissen, daß ich für die Stimmung von Straßen und Landschaften
über alle Maßen empfänglich bin.Wie ich auf der Suche nach der Roland Street durch die dunklen Straßen ging, im Nebel – es
war kein
fog
, sondern nur
mist
, der weiße, körnige, milchige Dunst, so richtig November – da packte mich das Gefühl dieser religiösen Verwahrlosung so stark,
daß ich fast seekrank wurde.
Endlich fand ich das Haus und neben der Tür auf einer Tafel den Namen, den mir die unbekannte Telephonstimme angegeben hatte.
Ich klingelte. Nach einer Weile waren schlurfende Schritte zu hören, ein
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