Reise im Mondlicht
geraten sein. Unsere Leben sind voller unerklärlicher Koinzidenzen …«
»Und die Augen?«
»Die Augen habe ich mir bestimmt nur eingebildet, unter der Wirkung der sonderbaren Umgebung und des Londoner Novembers. Denn
ich bin nach wie vor überzeugt, daß die Toten tot sind.«
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Die Zeit war um. Mihály war wieder gesund und mußte die Klinik verlassen. Der Gefangene, der nach zwanzig Jahren Haft auf
freien Fuß gesetzt wird, fühlt sich wohl nicht abgeschnittener und zielloser, als Mihály es war, als er mit seinen Habseligkeiten
an den niedrigen Häusern Folignos vorüberging.
Nach Hause reisen konnte er nicht, das fühlte er. Vor seiner Familie hatte er sich mit seiner absurden Flucht unmöglich gemacht.
Und die Vorstellung, nach Budapest zu fahren, ins Büro zu gehen, sich mit Geschäftsbelangen abzugeben und zwecks Entspannung
Bridge zu spielen und zu plaudern, war grauenvoll.
Warum nicht all die vielen italienischen Städte besichtigen, da war doch bestimmt noch etliches verborgen. Er beschloß, nach
Hause zu schreiben und um Geld zu bitten.
Doch er schob es von Tag zu Tag auf. Bis dahin blieb er in Foligno, da war ja immerhin Dr. Ellesley, der einzige Mensch, mit dem er etwas gemeinsam hatte. Er mietete ein Zimmer und lebte still vor sich hin, las die
englischen Bücher, die ihm der Arzt lieh, und freute sich auf das Mittag- und das Abendessen. Der Geschmack der italienischen
Speisen war das einzige, das ihn in diesen Tagen der Apathie mit der Wirklichkeit verband. Er mochte die unverhüllte Sentimentalität
der italienischen Küche. Die französisch inspirierte Küche schätzt im allgemeinen den gedämpften, zarten, bloß angedeuteten
Geschmack, sie ist diszipliniert wie die Farben der Männerkleidung. Die Italiener hingegen mögen das sehr Süße, sehr Saure,
sehr Charakteristische, und sogar die vielen Teigwaren haben eine sentimentale Prägung.
Eines Abends saß er mit Ellesley vor dem Hauptcafé des Städtchens. Wie gewohnt sprachen sie englisch. Da trat mit einemmal |94| eine junge Frau an ihren Tisch, redete sie auf amerikanisch an und setzte sich zu ihnen.
»Verzeihen Sie die Störung«, sagte sie, »aber ich irre schon den ganzen Tag in diesem verfluchten Nest umher und kann mich
mit niemandem verständigen. Ich möchte Sie um eine Information bitten. Es ist sehr wichtig; deswegen bin ich hier.«
»Wir stehen zur Verfügung.«
»Es ist so, ich studiere Kunstgeschichte in Cambridge.«
»Ach, in Cambridge«, rief Ellesley beglückt aus.
»Ja, in Cambridge, Massachusetts. Warum? Haben Sie vielleicht auch dort studiert?«
»Nein, in Cambridge, England. Womit können wir dienen?«
»Also, ich studiere Kunstgeschichte, und ich bin nach Italien gekommen, weil es hier sehr viel Bilder gibt, wissen Sie, die
es anderswo nicht gibt. Ich habe auch alle angeschaut.«
Sie nahm ein kleines Notizbuch hervor und fuhr mit seiner Hilfe fort: »Ich war in Florenz, Rom, Neapel, Venedig und sonst
noch an einem Haufen Orte, deren Namen ich jetzt nicht lesen kann, weil die Beleuchtung schlecht ist. Als letztes war ich
in Per… Perugia. Spreche ich es richtig aus?«
»Ja.«
»Dort im Museum habe ich einen französischen Herrn kennengelernt. Er war zwar Franzose, aber sehr anständig. Er hat mir alles
erklärt, und am Ende hat er gesagt, ich müsse unbedingt nach Foligno fahren, denn da gebe es ein ganz berühmtes Bild von Leonardo
da Vinci, sie wissen doch, der mit dem Letzten Abendmahl. Also bin ich hergefahren. Und ich habe den ganzen Tag das Bild gesucht
und nicht gefunden. Und niemand hat mir helfen können in diesem widerlichen Nest. Seien Sie doch so gut und verraten Sie mir,
wo das Bild steckt.«
Mihály und der Arzt blickten einander an.
»Ein Bild von Leonardo? Das hat es in Foligno nie gegeben«, sagte der Arzt.
»Das kann nicht sein«, sagte das Mädchen gekränkt. »Der französische Herr hat es gesagt. Er hat gesagt, es sei eine sehr schöne
Kuh darauf und eine Gans und eine Katze.«
|95| Mihály mußte lachen.
»My dear lady, die Sache ist ganz einfach: Der französische Herr hat Sie auf den Arm genommen. In Foligno gibt es kein Leonardo-Gemälde.
Und ich verstehe zwar nichts davon, aber ich habe das Gefühl, daß es überhaupt keinen Leonardo gibt mit einer Kuh, einer Gans
und einer Katze darauf.«
»Warum hat er es dann gesagt?«
»Wahrscheinlich, weil die zynischen Europäer mit diesen Tieren die Frauen zu vergleichen pflegen.
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