Reise im Mondlicht
Familiengeschichte hatte, wie jeder Engländer. Sein
Vater war Marineoffizier gewesen, hatte in Singapur Gelbfieber bekommen und dabei so entsetzliche Visionen gehabt, daß er,
kaum war er wieder gesund, zum Katholizismus übertrat, um den geschauten Qualen der Hölle zu entgehen. Seine religiöse und
zu einem großen Teil aus anglikanischen Geistlichen bestehende Familie wandte sich von ihm ab, worauf der Vater zum Engländerhasser
wurde, der Marine den Rücken kehrte, sich bei einer italienischen Handelsfirma anstellen ließ und später eine italienische
Frau heiratete |86| . Richard Ellesley – so hieß der Arzt – hatte seine Kindheit in Italien verbracht. Von seinem italienischen Großvater hatten
sie ein beträchtliches Vermögen geerbt, der Vater schickte den jungen Ellesley nach Harrow und Cambridge. Im Krieg kehrte
der Alte in die britische Marine zurück, fiel in der Schlacht am Skagerrak, das Vermögen versickerte, und seither verdiente
Ellesley sein tägliches Brot als Arzt.
»Von meinem Vater habe ich nichts anderes geerbt als die Angst vor der Hölle«, sagte er lächelnd.
Hier vertauschten sich die Rollen. Mihály hatte vor sehr vielem Angst, vor der Hölle aber überhaupt nicht, er hatte kein Gefühl
für das Jenseits, und so versuchte er den Arzt zu heilen. Das war auch dringend nötig, denn der kleine englische Arzt wurde
fast jeden dritten Tag von entsetzlichen Ängsten befallen.
Sie wurden nicht etwa durch Schuldgefühle ausgelöst: Der Arzt war eine reine, gutartige Seele und konnte sich auch keiner
nennenswerten Sünde anklagen.
»Warum glauben Sie dann, daß Sie in die Hölle kommen?«
»Ach Gott, wenn ich das wüßte. Ich werde ja nicht von mir aus hingehen, sondern hingeschleppt werden.«
»Der Satan hat nur über die Bösen Macht.«
»Das kann man nicht wissen. Schließlich heißt es im Gebet (Sie kennen es ja auch): ›Heiliger Erzengel Michael, verteidige
uns in unseren Kämpfen; vor der Schlechtigkeit und den Verlockungen des Satans gewähre uns Schutz. Gott weise ihn in seine
Schranken, so bitten wir kniefällig; und du, Anführer der himmlischen Heerscharen, stürze den Satan und die anderen bösen
Geister, die in dieser Welt die Seelen bedrohen, mit Gottes Kraft ins Verderben.‹« Das Gebet beschwor für Mihály die Kapelle
der Schule und den Schauder herauf, den dieses Gebet damals bei ihm immer ausgelöst hatte. Aber nicht der Satan und das Verderben
hatten ihn schaudern lassen, sondern die strenge, bis in uralte Zeiten zurückreichende Geschichtlichkeit des Gebets – im übrigen
war für ihn der Katholizismus etwas weitgehend Zeitgemäßes; einzig dieses Gebet schien aus längst verschütteten Zeiten übriggeblieben
zu sein.
|87| Wenn Ellesley von seinen Höllenängsten gepackt war, lief er zu Priestern und Mönchen, um von seinen Sünden freigesprochen
zu werden. Doch das half nicht viel. Teils, weil er sich gar nicht sündig fühlte und die Absolution also wirkungslos war.
Teils, weil seine Beichtiger zumeist primitive Landgeistliche waren, die es sich nicht nehmen ließen, die Schrecken der Hölle
liebevoll auszumalen und die Sache damit noch schlimmer zu machen. Am ehesten halfen Amulette und andere Zaubermittel. Einmal
hatte ihn eine alte Geistheilerin mit irgendwelchen Kräutern beräuchert, und danach hatte er zwei Monate lang Ruhe gehabt.
»Ja und Sie?« fragte er. »Haben Sie denn gar keine Angst? Was meinen Sie denn, was mit den Seelen nach dem Tod geschieht?«
»Nichts.«
»Und Sie hoffen nicht auf die Unsterblichkeit und das ewige Leben?«
»Die Namen der Großen bleiben ewig bestehen. Ich bin keiner von den Großen.«
»Und wie halten Sie das Leben aus?«
»Das ist eine andere Frage.«
»Ich verstehe nicht, wie Sie glauben können, daß jemand, der gestorben ist, gänzlich aufhört zu existieren. Es gibt doch tausend
Beispiele, die das Gegenteil beweisen. Jeder Italiener und jeder Engländer wird Ihnen das sagen. In diesen zwei Nationen gibt
es keinen Menschen, dem noch nie ein Toter begegnet ist, und trotzdem sind es die beiden anständigsten Völker der Welt. Ich
verstehe nicht, was ihr Ungarn für Menschen seid.«
»Ist Ihnen auch schon ein Toter begegnet?«
»Natürlich. Mehr als einmal.«
»Wie denn?«
»Ich erzähle es nicht, weil Sie sich dann vielleicht aufregen. Obwohl die eine Begegnung so unkompliziert war, daß es Sie
gar nicht aufregen kann. Während des Krieges ging ich in Harrow
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