Reise im Mondlicht
Selbstverständlich nur die
europäischen Frauen.«
»Das verstehe ich nicht. Sie wollen doch nicht etwa sagen, der französische Herr habe sich über mich lustig gemacht?« fragte
sie errötend.
»So könnte man es leider auch sagen.«
Das Mädchen verfiel ins Grübeln. Dann fragte sie Mihály:
»Sie sind kein Franzose?«
»Nein. Ich bin Ungar.«
Das Mädchen winkte ab, darauf kam es nicht mehr an. Dann wandte sie sich an Ellesley:
»Aber Sie sind Engländer?«
»Ja. Zum Teil.«
»Und sind Sie der gleichen Meinung wie Ihr Freund?«
»Ja«, sagte Ellesley und nickte traurig.
Das Mädchen dachte wieder eine Weile nach, dann ballten sich ihre Hände zu Fäusten.
»Und ich war so nett zu ihm! Wenn ich wenigstens wüßte, wie der Schweinekerl heißt.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ellesley tröstete sie:
»Es ist ja nichts passiert. Jetzt können Sie wenigstens notieren, daß Sie auch in Foligno gewesen sind.«
»Habe ich schon«, sagte das Mädchen schniefend.
»Na, sehen Sie«, sagte Mihály. »Und morgen fahren Sie schön nach Perugia zurück und setzen Ihre Studien fort. Ich werde Sie
zum Bahnhof begleiten, denn ich habe auch schon den falschen Zug genommen …«
»Es geht nicht darum. Die Schande, die Schande! Mit einer |96| armen, schutzlosen Frau so umzugehen! Man hat mir immer gesagt, ich solle mich vor den Europäern in acht nehmen. Aber ich
bin ein so offener Mensch. Kann man hier Whisky bekommen?« Und so blieben sie bis Mitternacht beisammen. Auf Mihály wirkte
die Gegenwart des Mädchens belebend, auch er trank Whisky und wurde gesprächig, wobei er das Plaudern doch eher ihr überließ.
Der kleine Doktor hingegen wurde schweigsam, denn er war schüchtern, und das Mädchen gefiel ihm.
Das Mädchen – Millicent Ingram hieß sie – war großartig. Vor allem als Kunsthistorikerin. Von Luca della Robbia wußte sie, daß es eine
Stadt am Arno war, und sie behauptete, sie habe in Paris Watteaus Atelier besucht. »Ein sehr lieber alter Herr, bloß hat er
schmutzige Hände, und ich mag es nicht, wenn man mich im Flur auf den Hals küßt.« Sie redete die ganze Zeit von Kunstgeschichte,
leidenschaftlich und selbstbewußt.
Allmählich stellte sich heraus, daß sie aus Philadelphia stammte, aus einer reichen Familie, daß sie sich, soviel sie wußte,
zu Hause in der High Society großer Beliebtheit erfreute, und daß Europa für sie Einsamkeit und Natur bedeutete, wofür sie
offenbar einen rousseauistischen Hang hatte. Und obwohl sie in Paris, Wien und an den anderen besseren Orten jeweils ein Semester
Kunstgeschichte gehört hatte, war an der amerikanischen Unverdorbenheit ihres Gemüts nichts hängengeblieben.
Doch als Mihály wieder zu Hause war, summte er während des Zubettgehens gutgelaunt vor sich hin, und seine Apathie war weg.
Millicent, sagte er. Daß jemand tatsächlich so heißen kann. Millicent.
Millicent Ingram war nicht das sinnenverwirrende,atemraubend schöne amerikanische Mädchen, wie sie nach dem Krieg in Paris
umherliefen, als außer ihnen alles auf dieser Welt häßlich war. Millicent gehörte eher zur zweiten Garnitur der amerikanischen
Schönheiten. Aber auch sie war schön, was zwar vielleicht doch eine Übertreibung ist, denn ihr Gesicht war völlig ausdruckslos.
Doch immerhin war sie sehr hübsch mit ihrer kleinen Nase, ihren üppigen und auch noch auf groß geschminkten Lippen und ihrer |97| ausgezeichneten, sportlichen Figur. Ihre Muskeln schienen elastisch wie Gummi.
Und sie war Amerikanerin. Also doch immerhin von der Sorte, die in Mihálys Jugendtagen in bezaubernden Exemplaren nach Paris
exportiert worden war. Die »fremde Frau«, das ist ein Teil der Jugendzeit, der Wanderjahre. Danach bleibt ein Bedauern zurück,
denn in jenen Jahren ist man jung und feige und läßt sich die besten Gelegenheiten entgehen. Und da Mihály schon seit vielen
Jahren wieder in Budapest lebte und alle seine Liebschaften dort abwickelte, beschwor diese fremde Frau die Jugend herauf.
Die Befreiung. Nach Erzsi, nach dem ernsten Eheleben, nach all den ernsten Jahren. Endlich ein Abenteuer, endlich etwas Unerwartetes
mit einem ungewissen Ende.
Und auch Millicents Dummheit zog ihn an. In der tiefen Dummheit ist etwas Schwindelerregendes, etwas wirbelhaft Anziehendes,
so wie in der Verwesung. Die Anziehungskraft des Vakuums.
So kam es, daß er anderntags, als er Millicent zum Bahnhof begleitete, noch vor dem Lösen der Fahrkarte
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