Reise im Mondlicht
auch im Mondlicht. Aber für Mihály hatte auch das eine gräßliche symbolische Bedeutung.Wieder
lief er fluchtartig davon, und in dem Augenblick, kann man sagen, brach seine Krankheit aus.Was danach mit ihm geschah, wußte
er später nicht mehr.
Am vierten, fünften oder sechsten Tag überraschte ihn die Abenddämmerung auf einem Berghang. Die rosaroten und goldenen Farbtöne
des Sonnenuntergangs ergriffen ihn auch jetzt, in seinem fiebrigen Zustand, ja, vielleicht jetzt noch mehr als normalerweise;
denn in seinem normalen Zustand hätte er sich geschämt, von den altgewohnten, ziellosen Himmelsfarben so hingerissen zu sein.
Als die Sonne hinter dem Berg verschwunden war, hatte er plötzlich die wahnhafte Idee, er müsse auf einen Felsen klettern,
um von dort oben die Sonne noch eine Weile zu sehen. Doch seine ungeschickten Hände griffen daneben, er rutschte in den Straßengraben
und hatte nicht mehr die Kraft aufzustehen. Er blieb dort liegen.
Zum Glück kamen gegen Morgen Hausierer mit ihren Maultieren des Wegs, sie sahen im Mondlicht die liegende Gestalt, erkannten
in ihr den vornehmen Fremden und brachten ihn mit respektvoller Anteilnahme ins Dorf hinunter. Darauf wurde er von den Behörden
umständlich weiterspediert, bis zum Krankenhaus von Foligno. Wie gesagt, von dem allem wußte er nichts.
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Als er zu sich kam, konnte er noch immer kein Wort Italienisch. Er stellte der Krankenschwester auf ungarisch und mit müder,
erschrockener Stimme die übliche Fragen, wo bin ich, wie bin ich hierhergekommen. Die Krankenschwester konnte zwar nicht antworten,
aber er begriff auch so – es war ja auch nicht schwer –, daß er im Krankenhaus war. Dann erinnerte er sich, wie komisch er sich in den Bergen gefühlt hatte, und er beruhigte sich.
Nur daß er gern gewußt hätte, was ihm fehlte. Schmerzen hatte er nicht, er war nur sehr schwach und müde.
Zum Glück gab es im Krankenhaus einen Arzt, der halb Engländer war, den holte man herbei. Mihály hatte längere Zeit in England
gelebt, und die englische Sprache war ihm so sehr ins Blut übergegangen, daß er sie auch jetzt nicht vergessen hatte. Sie
verständigten sich bestens.
»Ihnen fehlt nichts«, sagte der Arzt, »abgesehen davon, daß Sie vollkommen erschöpft sind. Wie haben Sie das fertiggebracht?«
»Ich?« fragte Mihály erstaunt. »Ich habe nichts gemacht. Ich habe gelebt.«
Und er schlief ein.
Als er aufwachte, fühlte er sich viel besser. Der englische Arzt kam wieder zu ihm, untersuchte ihn und wiederholte, es fehle
ihm nichts, er könne in ein paar Tagen aufstehen.
Der Arzt kam oft zu Mihály, um mit ihm zu plaudern, denn er fand ihn interessant. Und er hätte gern gewußt, was ihn so ermüdet
hatte. Allmählich fiel ihm auf, daß Mihály von der Aussicht, in ein paar Tagen wieder gesund zu sein und das Krankenhaus zu
verlassen, höchst beunruhigt war.
»Haben Sie hier in Foligno oder in der Umgebung etwas zu tun?«
|85| »Aber nein. Ich habe nicht einmal gewußt, daß es auf der Welt ein Foligno gibt.«
»Wohin wollen Sie dann von hier aus? Zurück nach Ungarn?«
»Nein, nein. Ich möchte in Italien bleiben.«
»Und was wollen Sie hier tun?«
»Keine Ahnung.«
»Haben Sie Angehörige?«
»Nein, niemanden«, sagte Mihály und begann vor nervöser Schwäche zu weinen. Der weichherzige Arzt bekam großes Mitleid mit
dem einsamen Menschen und behandelte ihn von da an noch liebevoller. Obwohl Mihály ja nicht geweint hatte, weil er niemanden
hatte, sondern im Gegenteil, weil er zu viele hatte und fürchtete, er würde sein Inkognito, das er hier im Krankenhaus so
genoß, nicht lange wahren können.
Er erzählte dem Arzt, er habe sich sein Leben lang danach gesehnt, im Krankenhaus liegen zu dürfen. Natürlich nicht als Schwerkranker
und Leidender, sondern so wie jetzt, in hilf- und willenloser Müdigkeit, umsorgt, ohne Wunsch und Ziel, jenseits der menschlichen
Belange.
»Ja, Italien schenkt mir alles, wonach ich mich gesehnt habe.«
Es stellte sich heraus, daß der Arzt die historischen Bezüge ebenso liebte wie Mihály. Mit der Zeit verbrachte er jede freie
Minute an Mihálys Bett, bei geschichtlichen Erörterungen, die müde hin und her schwappten. Mihály erfuhr viel über Angela
da Foligno, heilige Mystikerin und namhaftestes Kind der Stadt, die man jedoch in Foligno im allgemeinen gar nicht kannte.
Und er erfuhr auch viel über den Arzt selbst, der eine abenteuerliche
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