Reise im Mondlicht
niemand. Sie sind sehr alt.«
In Mihály erwachte der Religionshistoriker. Hochinteressant, daß sie im Laufschritt hinaufgetragen werden … auch die thrakischen Bacchantinnen liefen am Fest des Dionysios auf den Berg hinauf. Überhaupt ist dieses Gubbio wundersam
urzeitlich: die Bronzetafeln, die Totentüren … Vielleicht war auch der vom heiligen Franziskus gezähmte Wolf eine uralte italische Gottheit, die auf diese Art in der Legende
weiterlebt, ein Verwandter der Wölfinmutter von Romulus und Remus. Wie seltsam, daß es Ervin ausgerechnet hierher verschlagen
hatte …
Nach einer Stunde steilen Aufstiegs gelangten sie zum Kloster. Die Gebäude waren von einer starken Mauer umschlossen, sie
mußten an einer kleinen Tür klingeln. Nach längerer Zeit ging an der Tür ein Fensterchen auf, und ein bärtiger Mönch schaute
heraus. Der Bursche erklärte beflissen, der Herr sei ein Pilger und wolle zu Sant’ Ubaldo. Die Tür ging auf. Mihály bezahlte
den Jungen und trat in den Hof ein.
|118| Der Bruder Pförtner musterte erstaunt Mihálys Kleidung.
»Der Herr ist Ausländer?«
»Ja.«
»Macht nichts, es gibt hier einen Pater, der ist auch Ausländer und kann ausländisch sprechen. Ich will ihn benachrichtigen.«
Mihály wurde in ein Gebäude geführt, wo noch Licht brannte. Nach ein paar Minuten trat Ervin ein, diesmal nicht im Meßgewand,
sondern in der braunen Kutte der Franziskaner. Erst jetzt fiel Mihály auf, wie franziskanisch Ervin war. Die Tonsur verlieh
seinem Gesicht ein ganz anderes Aussehen, sie hatte genügt, alle Weltlichkeit, alles Diesseitige darin abzutöten und es in
die Sphäre Giottos und Fra Angelicos zu erheben, und doch hatte Mihály das Gefühl, das sei Ervins wahres Gesicht, er habe
sich von Anfang an auf dieses Aussehen vorbereitet, und auch die Tonsur sei immer auf seinem Kopf gewesen, damals allerdings
verdeckt von krausem schwarzem Haar … Es gab keinen Zweifel, Ervin hatte sich gefunden, so entsetzlich das war. Und bevor er sich’s versah, grüßte er Ervin auf
die Art, wie man es ihn in der Schule gelehrt hatte: »Laudeatur Jesus Christus.«
»In aeternum«, antwortete Ervin. »Du hast also hier heraufgefunden. Komm, wir gehen ins Empfangszimmer. In meiner Zelle darf
ich keine Besuche empfangen. Wir halten die Klausur streng ein.«
Er zündete einen Leuchter an und führte Mihály durch riesige, weißverputzte und völlig leere Räume, durch Gänge und Zimmerchen,wo
kein Mensch war und nur ihre Schritte widerhallten. »Wieviele seid ihr in diesem Kloster?« fragte Mihály.
»Sechs. Platz haben wir genug, wie du siehst.«
Das war unheimlich. Sechs Personen in einem Haus, wo zweihundert bequem Platz gehabt hätten. So viele waren es bestimmt einmal
auch gewesen.
»Hast du hier nie Angst?«
Ervin ging lächelnd über die kindische Frage hinweg.
So gelangten sie ins Empfangszimmer, einen riesigen, gewölbten leeren Saal, wo in einer Ecke ein Tisch und ein paar wacklige
Stühle standen. Auf dem Tisch ein Krug Rotwein und ein Glas. |119| »Dank der Güte des Pater Prior bin ich in der glücklichen Lage, dir etwas Wein anbieten zu können«, sagte Ervin. Mihály wurde
bewußt, daß Ervin ein bißchen komisch redete. Er sprach ja seit so vielen Jahren nicht mehr ungarisch … »Ich will dir auch gleich einschenken. Es wird dir gut tun nach dem langen Weg.«
»Und du?«
»Ach nein, ich trinke nicht. Seit ich in den Orden eingetreten bin …«
»Ervin … am Ende rauchst du auch nicht mehr?«
»Nein.«
Mihálys Augen füllten sich wieder mit Tränen. Das konnte er sich nun wirklich nicht vorstellen. Er war bereit, von Ervin alles
anzunehmen, bestimmt trug er unter der Kutte ein härenes Gewand, und noch vor seinem Ableben würde er die Stigmata bekommen … aber daß er nicht mehr rauchte!
»Ich habe auf viel größere Dinge verzichten müssen«, sagte Ervin, »so daß mir dieses Opfer gar nicht auffiel. Aber trink du
nur ruhig und zünde dir eine an.«
Mihály kippte ein Glas hinunter. Man macht sich große Illusionen über den Wein der Mönche, den sie für spezielle Gäste in
spinnwebenverhangenen Flaschen aufbewahren.Na, der war nicht so. Sondern ein gewöhnlicher, ganz reiner Landwein, dessen Geschmack
hervorragend zur Schlichtheit des weißen Raums paßte. »Ich weiß nicht, ob das ein guter Wein ist«, sagte Ervin. »Wir haben
keinen Keller. Wir sind ein Bettelorden, und das muß man weitgehend
Weitere Kostenlose Bücher