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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antal Szerb
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wörtlich verstehen. Jetzt erzähle.«
    »Ervin, von uns beiden hast du doch ein viel seltsameres Leben. Meine Neugier ist viel größer als deine. Du mußt zuerst erzählen   …«
    »Was könnte ich dir erzählen, Mischi? Wir haben keine Biographie. Jeder hat die gleiche Geschichte wie der andere, und das
     Ganze verschmilzt mit der Geschichte der Kirche.«
    »Aber wie bist du nach Gubbio gekommen?«
    »Zuerst war ich Novize zu Hause in Ungarn, in Gyöngyös, und danach war ich lange im Kloster von Eger. Dann mußte der ungarische
     Ordenszweig in einer bestimmten Angelegenheit einen |120| Pater nach Rom schicken, und da haben sie mich geschickt, weil ich bis dahin Italienisch gelernt hatte. Nachdem ich die Angelegenheit
     erledigt hatte,holte man mich wieder nach Rom,weil man mich dort irgendwie schätzte, was wirklich nicht mein Verdienst ist,
     und man wollte mich dabehalten, auf dem Generalat. Doch ich fürchtete, das würde dahin führen, daß ich mit der Zeit   … Karriere machte, natürlich nur im franziskanischen Sinn des Wortes, indem ich irgendwo Abt wurde oder auf dem Generalat
     einen Rang bekleidete. Und das wollte ich nicht. Ich habe den Pater Generalminister gebeten, mich hierher zu versetzen, nach
     Gubbio.«
    »Warum ausgerechnet hierher?«
    »Ich weiß gar nicht recht. Vielleicht wegen der alten Legende, wegen des Wolfs von Gubbio, erinnerst du dich, als Studenten
     schwärmten wir doch dafür. Wegen der Legende bin ich einmal von Assisi herübergekommen, und das Kloster hat mir sehr gefallen.Weißt
     du, das ist ein Ort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen   …«
    »Und du fühlst dich hier wohl?«
    »Ja. Je mehr Zeit vergeht, desto größer wird in mir der Friede   … aber ich will nicht ›salbadern‹« – er setzte den Ausdruck mit einem komischen schmalen Lächeln in Anführungszeichen   –, »denn ich weiß ja, daß du nicht zu Pater Severinus gekommen bist, sondern zu dem, der einmal Ervin war, oder?«
    »Ich weiß es nicht so recht   … sag   …. Es ist so schwer, nach diesen Dingen zu fragen   … ist es hier nicht sehr eintönig?«
    »Überhaupt nicht. In unserem Leben gibt es genauso Freuden und Kummer wie im gewöhnlichen Leben, bloß sind die Maßstäbe anders,
     der Akzent liegt auf etwas anderem.«
    »Warum willst du keine Ordenskarriere machen? Aus Demut?«
    »Nein. Die Rangstufen, die ich erreichen könnte, sind mit der Demut vereinbar, um so mehr, als sie Gelegenheit gäben, den
     Hochmut niederzuringen. Ich habe aus einem ganz anderen Grund keine Karriere machen wollen. Nämlich weil ich den Aufstieg
     nicht meinen Qualitäten als Mönch verdanken würde, sondern Eigenschaften, die ich noch aus meinem weltlichen Leben, ja, von
     meinen Vorfahren her mitgebracht habe. Meiner Sprachbegabung |121| und der Tatsache, daß ich gewisse Dinge rascher und besser formulieren kann als ein Teil meiner Ordensbrüder. Also meinen
     jüdischen Eigenschaften. Und das wollte ich nicht.«
    »Und wie sehen das deine Ordensbrüder, daß du ein Jude gewesen bist? Ist es für dich ein Nachteil?«
    »Nein, überhaupt nicht, es war nur ein Vorteil, denn es gab einige Ordensbrüder,die mich spüren ließen,wie sehr meine Rasse
     sie befremdet, und damit gaben sie mir Gelegenheit zur Übung der Sanftmut und der Selbstverleugnung. In Ungarn, wo ich in
     den Dörfern seelsorgerisch tätig war, wurde die Sache immer irgendwie ruchbar, und die wackeren Gläubigen betrachteten mich
     wie ein Wunderding und hörten mir mit viel größerer Aufmerksamkeit zu. Hier in Italien hingegen kümmert sich niemand darum.
     Hier habe ich selbst fast schon vergessen, daß ich ein Jude war.«
    »Aber trotzdem, Ervin   … was machst du den ganzen Tag? Was für Aufgaben hast du?«
    »Sehr viele. Hauptsächlich Gebete und Exerzitien.«
    »Schreiben tust du nicht mehr?«
    Ervin mußte wieder lächeln.
    »Nein, schon lange nicht mehr. Aber es stimmt, als ich in den Orden eintrat, dachte ich, ich würde der Kirche mit der Feder
     dienen, ich würde ein katholischer Dichter   … doch dann   …«
    »Dann? Hat dich die Inspiration verlassen?«
    »Gar nicht. Ich habe die Inspiration verlassen. Ich habe begriffen, daß auch das vollkommen überflüssig ist.«
    Mihály wurde nachdenklich. Jetzt erst begann er wirklich zu spüren, welche Welten ihn von Pater Severinus, dem einstigen Ervin,
     trennten.
    »Seit wann bist du hier in Gubbio?« fragte er schließlich.
    »Wart mal   … ich glaube, seit sechs

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