Reise im Mondlicht
desolaten Zustand.Es liegt abseits des Touristenverkehrs,Gewerbe und
Handel gibt es kaum, und wovon die paar Menschen zwischen seinen Mauern leben, ist ein Rätsel.
Vom Dom kommend bog Mihály in die Via dei Consoli ein. Von dieser Straße hat Ellesley gesprochen, dachte er. Sie sah einschlägig
aus, das konnte man sagen. In ihren vor Alter schwarzen, kahlen, würdevoll armen Häusern vermutete man Bewohner, die schon
seit Jahrhunderten nur noch von der Erinnerung an glorreiche Zeiten lebten, bei Wasser und Brot …
Und tatsächlich, schon am dritten Haus gab es eine Totentür. Neben der gewöhnlichen Tür, einen Meter über dem Boden, eine
zugemauerte schmale gotische Öffnung. Fast alle Häuser der Via dei Consoli haben eine solche Tür, anderes gibt es kaum in
dieser Straße, und merkwürdigerweise waren auch keine Menschen zu sehen.
Er ging durch einen engen Durchgang in die Parallelstraße, die auch nicht jünger war, nur etwas weniger düster-vornehm und
vielleicht doch von Lebewesen bewohnt. Und offenbar auch von Toten. Denn vor einem Haus stand eine höchst merkwürdige Menschengruppe.
Hätte Mihály nicht gleich gewußt, worum es sich handelte, hätte er gedacht, er sehe nicht recht. Vor dem Haus standen Kapuzengestalten,
eine Kerze in der Hand. Eine Beerdigung war es, bei der die Toten noch nach altem italienischem Brauch von den kapuzenverhüllten
Mitgliedern der Confraternitas hinausgetragen wurden.
Mihály nahm den Hut ab und trat hinzu, um die Zeremonie zu sehen. Die Totentür war offen, man sah ins Haus hinein, in einen
dunklen Raum, wo die Bahre stand. Priester und Ministranten mit Weihrauchgefäßen standen singend darum herum. Dann |114| wurde der Sarg aufgehoben und den Kapuzengestalten auf die Straße hinausgereicht.
Da erschien ein Priester im Meßgewand in der gotischen Türöffnung.Er wandte sein trauriges,elfenbeinfarbenes Gesicht blicklos
zum Himmel, neigte den Kopf seitwärts und faltete mit einer unglaublich liebenswerten, an alte Zeiten erinnernden Bewegung
die Hände.
Mihály stürzte nicht zu ihm hin. Er war jetzt ein Priester, ein ernster, blasser Mönch, der gerade eine kirchliche Funktion
erfüllte … nein, er konnte nicht zu ihm hinstürzen wie ein Gymnasiast, wie ein Junge …
Der Zug setzte sich mit dem Sarg in Bewegung, hinter ihm der Priester und die Trauergemeinde. Mihály schloß sich an und trottete
mit gezogenem Hut in Richtung des Camposanto bergaufwärts. Sein Herz klopfte so stark, daß er von Zeit zu Zeit stehenbleiben
mußte. Ob sie wohl noch miteinander reden konnten, nach so vielen Jahren und so verschiedenen Wegen?
Er fragte einen der Trauernden, wie der Priester heiße.
»Das ist Pater Severinus«, sagte der Italiener, »ein ganz heiliger Mann.«
Sie kamen auf dem Camposanto an, der Sarg wurde ins Grab hinuntergelassen, die Beerdigung war zu Ende, und die Leute gingen
auseinander. Pater Severinus machte sich mit einigen Begleitern wieder in Richtung der Stadt auf.
Mihály konnte sich immer noch nicht entschließen, zu ihm hinzugehen. Er dachte, Ervin, der heilige Mann, schäme sich bestimmt
für seine weltliche Jugend und denke mit edlem Widerwillen an sie zurück, so wie der heilige Augustinus. Bestimmt hatte er
jetzt ganz andere Werte, und Mihály existierte für ihn vielleicht gar nicht mehr, vielleicht nicht einmal als Erinnerung.
Sollte er nicht einfach abreisen und sich mit dem Wunder begnügen, daß er Ervin gesehen hatte?
Da ließ Pater Severinus seine Begleiter weiterziehen und kehrte um. Er kam geradewegs auf Mihály zu. Dieser vergaß, daß er
sich hatte erwachsen benehmen wollen, und rannte zu Ervin hin. »Mischi!« rief Ervin und umarmte ihn. Dann hielt er mit priesterlicher |115| Zärtlichkeit die rechte, dann die linke Wange an Mihálys Wangen.
»Ich habe dich schon bei der Beerdigung gesehen«, sagte er leise. »Wie kommst du an diesen Ort, wo sich Fuchs und Hase gute
Nacht sagen?«
Doch er fragte das nur aus Freundlichkeit, man hörte seiner Stimme an, daß er überhaupt nicht staunte. Eher schien er eine
solche Begegnung schon lange erwartet zu haben.
Mihály brachte kein Wort heraus. Er mußte Ervins Gesicht anschauen, das schmal und lang geworden war, und seine Augen, in
denen das jugendliche Feuer fehlte und die hinter der momentanen Freude so traurig dreinblickten wie die Häuser Gubbios. »Mönch«
war bis dahin für Mihály nur ein Wort gewesen, jetzt begriff er, daß
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