Reise im Mondlicht
geschwankt. Er schien
zu fühlen, daß er vor einer sehr schweren Aufgabe stand. Aber dann ist sie ihm doch gelungen.«
»Wie denn?«
»Das weiß ich nicht. Anscheinend hat er den Geist mit Exorzismus ausgetrieben. Nachdem er mit der Dame eine Stunde lang in
einer unbekannten Sprache gesprochen hatte, kehrte er auf den |111| Berg zurück; die Dame ihrerseits beruhigte sich, reiste von Gubbio weg und ward nicht mehr gesehen, weder sie noch der Geist.«
»Interessant. Aber sagen Sie«, sagte Mihály von einer plötzlichen Ahnung gepackt, »dieser Pater Severinus, der stammt aus
einem fremden Land? Und Sie wissen wirklich nicht, aus welchem?«
»Nein, tut mir leid. Niemand weiß es.«
»Was für ein Mensch ist er, ich meine, wie sieht er aus?«
»Ziemlich groß, hager … So wie Mönche auszusehen pflegen.«
»Und er ist immer noch in dem Kloster?«
»Ja. Zu ihm müssen Sie gehen. Nur er kann Ihr Problem lösen.«
Mihály wurde sehr nachdenklich. Das Leben ist voller unerklärlicher Zufälle. Dieser Pater Severinus, das war vielleicht tatsächlich
Ervin, und die Dame war Éva gewesen, die von der Erinnerung an Tamás heimgesuchte Éva …
»Wissen Sie was, Doktor, ich fahre morgen nach Gubbio.Wenn Sie es raten, wird es schon richtig sein. Ich bin auch auf die
Totentüren neugierig, ich als Kunstliebhaber und Religionshistoriker.« Das freute Ellesley sehr.
Mihály packte am nächsten Tag. Zu Millicent, die ihn besuchen kam, sagte er:
»Ich muß nach Gubbio fahren. Der Doktor sagt, ich würde nur dort gesund.«
»Wirklich? Ich fürchte, dann müssen wir uns verabschieden. Ich bleibe noch eine Weile in Foligno. Die Stadt ist mir ans Herz
gewachsen. Wenn ich denke, wie wütend ich auf den Franzosen gewesen bin, der mich hierher gehetzt hat, weißt du noch? Aber
jetzt macht es mir nichts mehr. Und der Doktor ist ein sehr lieber Mensch.«
»Millicent, ich bin dir leider immer noch Geld schuldig. Es ist mir unendlich peinlich, aber weißt du, bei uns macht nur die
Nationalbank Geldüberweisungen ins Ausland, und das ist sehr kompliziert. Ich muß dich also um Nachsicht bitten. Es kann sich
nur noch um Tage handeln, bis das Geld eintrifft.«
»Laß doch. Und wenn du ein schönes Bild siehst, schreib mir.«
|112| 5
Nach Gubbio fährt man mit einer Schmalspur-Motorbahn, die zwischen Fossato di Vico und Arezzo verkehrt. Trotz der geringen
Distanz dauerte die Fahrt ziemlich lange, heiß war es auch, und Mihály kam sehr müde an. Doch die Stadt, die bald in Sicht
kam, als er vom Bahnhof aus bergan stieg, bezauberte ihn augenblicklich.
Sie duckt sich am Hang eines kahlen, sehr italienischen Bergs, als wäre sie bei der Flucht nach oben zusammengebrochen. Daß
da kein Haus stand, das nicht mehrere hundert Jahre alt war, sah man gleich.
Inmitten des Gassengewirrs türmt sich ein unglaublich hohes Gebäude empor, man versteht gar nicht, von wem und warum es mitten
in diesen gottverlassenen Ort gebaut worden ist. Ein ungeheurer, melancholischer, mittelalterlicher Wolkenkratzer. Das ist
der Palazzo dei Consoli, von hier aus lenkten die Konsuln den kleinen Städtebund von Gubbio bis zum 14. Jahrhundert, als die Stadt in den Besitz der Herzöge von Urbino, der Montefeltro, kam. Über der Stadt, fast auf dem Gipfel
des Monte Ingino, steht ein weißer Gebäudekomplex, das Kloster Sant’ Ubaldo.
An der Straße, die vom Bahnhof in die Stadt führt, gibt es einen besser aussehenden kleinen Albergo, wo Mihály ein Zimmer
nahm, zu Mittag aß und sich ein bißchen ausruhte. Dann machte er sich zu einem Entdeckungsspaziergang auf. Er besichtigte
den Palazzo dei Consoli, der innen wie ein riesiges leeres Atelier aussieht und die uralten Bronzetafeln von Iguvium enthält,
mit den aus vorrömischer Zeit stammenden sakralen Texten der Umbrer. Auch den Dom besichtigte er. Andere Sehenswürdigkeiten
gibt es eigentlich nicht, die Stadt selbst ist die Sehenswürdigkeit.
Die meisten italienischen Städte dieser Gegend sehen aus, als |113| wären sie am Auseinanderbröckeln, noch ein paar Jahre, und der Verfall ist komplett. Das rührt daher, daß die Italiener dort,
wo sie aus Naturstein bauen, die Wände nicht verputzen, während der mitteleuropäische Betrachter meint, von sämtlichen Häusern
sei der Verputz abgefallen und das Ganze sei schon halbwegs eine Ruine. Gubbio ist noch viel unverputzter, noch viel bröckelnder
als die anderen Städte. Gubbio ist geradezu in einem
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