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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antal Szerb
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Jahren. Vielleicht auch sieben.«
    »Ervin, wenn ich an dich dachte, ist mir immer eine Frage gekommen: Fühlt ihr auch, daß die Zeit vergeht und daß jeder ihrer
     kleinsten Teile eine separate Wirklichkeit ist? Habt ihr eine Geschichte? Wenn dir ein Ereignis einfällt, kannst du dann sagen,
     daß es 1932 oder 1933 geschehen ist?«
    |122| »Nein. Uns Mönchen wird unter anderem die Gnade zuteil, daß uns Gott der Zeit enthebt.«
    In diesem Augenblick begann Ervin heftig zu husten. Mihály erinnerte sich jetzt, daß er schon zuvor gehustet hatte; ein trockener,
     übler Husten.
    »Sag, Ervin, hast du nicht irgendwie ein Lungenproblem?«
    »Ja, in der Tat ist mit meiner Lunge etwas nicht ganz in Ordnung   … man könnte sogar sagen, daß sie sich in einem sehr schlechten Zustand befindet. Weißt du, wir Ungarn sind so verwöhnt. In
     Ungarn wird immer so gut geheizt. Bestimmt haben mir diese italienischen Winter sehr zugesetzt, die ungeheizte Zelle, die
     kalte Kirche   … und in Sandalen auf dem Steinfußboden   … und auch diese Kutte ist nicht sehr warm.«
    »Ervin, du bist krank   … kümmert sich jemand um dich?«
    »Du bist lieb, Mihály, aber du brauchst mich nicht zu bemitleiden«, sagte Ervin hustend. »Weißt du, daß ich krank bin, gereicht
     mir auch zum Segen. Deshalb hat man eingewilligt, daß ich nach Gubbio komme, weil die Luft hier so gut ist. Vielleicht werde
     ich von ihr tatsächlich gesund. Im übrigen gehört das physische Leiden ebenfalls zu unserer Ordensregel. Andere müssen sich
     kasteien, bei mir sorgt der Körper selbst für die Qualen   … Aber lassen wir das. Du bist gekommen, um von dir zu sprechen, laß uns die kostbare Zeit nicht mit Dingen vergeuden, an
     denen weder du noch ich etwas ändern können.«
    »Das stimmt aber nicht, Ervin   … du müßtest anders leben, du müßtest irgendwohin gehen, wo man dich pflegt und dir Milch zu trinken gibt und du an der Sonne
     liegen mußt.«
    »Mach dir keine Sorgen um mich, Mihály. Vielleicht werde ich das alles einmal tun. Auch wir müssen uns gegen den Tod wehren,
     denn wenn wir einfach zuließen, daß die Krankheit über uns siegt, wäre es eine Form des Selbstmords.Wenn es ernst wird, wird
     auch zu mir der Arzt kommen   … aber bis dahin geht es noch lange, glaube mir. Und jetzt erzähle. Erzähl alles, was dir widerfahren ist, seit wir uns das
     letzte Mal gesehen haben. Aber zuerst erzähle, wie du mich gefunden hast.«
    »Durch János Szepetneki. Er hat gesagt, daß du irgendwo in |123| Umbrien bist, wo genau, das wußte er auch nicht. Und dank seltsamer Zufälle, die wirklich wie Fingerzeige waren, ist mir die
     Ahnung gekommen, daß du hier in Gubbio lebst und der berühmte Pater Severinus bist.«
    »Ja, ich bin Pater Severinus. Und jetzt erzähl von dir. Ich höre.«
    Er neigte den Kopf mit der klassischen Bewegung des Beichtvaters in die Hände, und Mihály begann zu erzählen. Stockend zuerst,
     doch Ervins Fragen waren erstaunlich hilfreich. Ja, die lange Beichtpraxis, dachte Mihály. Und das Geständnis wollte sowieso
     aus ihm heraus. Während er sprach, wurde ihm alles bewußt, was ihn bei seiner Flucht eher instinktiv gesteuert hatte: wie
     sehr er sein erwachsenes oder pseudo-erwachsenes Dasein für verfehlt hielt, seine Ehe inklusive, und wie wenig er wußte, was
     er anfangen sollte, was er von der Zukunft noch zu erwarten hatte und was er machen sollte, um sich selbst zu finden. Und
     vor allem, wie sehr ihn die Sehnsucht nach seiner Jugend und den Freunden quälte. Als er an diesem Punkt angelangt war, wurde
     er von den Emotionen übermannt. Er tat sich selbst leid, schämte sich aber auch für seine Sentimentalität, vor Ervin, vor
     Ervins Bergeshöhen-Gelassenheit. Und auf einmal fragte er verblüfft:
    »Und du? Wie hältst du die Erinnerung aus? Tut sie dir nicht weh? Fehlt dir das alles nicht? Wie machst du das?«
    Auf Ervins Gesicht erschien das schmale Lächeln, dann neigte er den Kopf und antwortete nicht.
    »Antworte, Ervin, ich flehe dich an: Fehlt dir jene Zeit nicht?«
    »Nein«, sagte er mit farbloser Stimme und verdüsterter Miene, »mir fehlt gar nichts mehr.«
    Sie schwiegen lange. Mihály versuchte zu verstehen. Es war wahrscheinlich schon so: Ervin hatte tatsächlich alles in sich
     abgetötet. Er hatte sich von allem losreißen müssen, hatte in seiner Seele sogar die Wurzeln ausgegraben, aus denen die zwischenmenschlichen
     Gefühle herauszuwachsen pflegen. Jetzt tat ihm nichts

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