Reise ohne Wiederkehr
Nationalsozialisten an. Nach deren Machtübernahme wurde er seiner Ämter gewaltsam enthoben.
Die Nationalsozialisten verhafteten ihn und andere führende Sozialdemokraten 1933, ließen Reuter kurzzeitig frei und nahmen ihn 1934 neuerlich fest. Seine Frau, Hanna Reuter, bemühte sich mit allen Mitteln um seine Freilassung aus dem Konzentrationslager. Sie setzte sich mit einer britischen Quäkerin in Verbindung, der es im September 1934 gelang, über einen prominenten Labour-Politiker Reuters Freilassung zu erwirken. Wiederum andere britische Freunde halfen Reuter Anfang 1935, eine Unterkunft in London zu finden; dorthin floh er, weil er in Deutschland damit rechnen musste, erneut verhaftet zu werden.
|67| Von England aus bemühte sich Reuter um eine Hochschulposition an der London School of Economics; gleichzeitig bat er seinen Parteifreund Fritz Baade um Hilfe, der bereits Ende 1934 in die Türkei geflohen war. Baade gelang es, Reuter eine Stelle als Sachbearbeiter für Tariffragen im türkischen Wirtschaftsministerium zu vermitteln, und so reiste der ehemalige Magdeburger Bürgermeister im Juni 1935 nach Ankara. Obwohl Reuter bis dahin keinerlei Verbindungen zur Türkei gehabt hatte, widmete er sich den neuen Herausforderungen mit großem Elan. 1935 schrieb er optimistisch nach England: „Heute weiß ich, dass ich so oder so die Dinge meistern werde. Ich werde Türkisch beherrschen und in die Sache mich einarbeiten.“ 23 Tatsächlich konnte Reuter binnen kurzer Zeit so gut Türkisch, dass er seine Arbeit für das Ministerium in dieser Sprache erledigte. Schon bald wandte er sich seinem Spezialgebiet, der Kommunalpolitik, zu. An der Verwaltungshochschule in Ankara hielt er Seminare und Vorlesungen in diesem Fach – speziell über Urbanisierung, Wohnungs- und Baugeländepolitik, Stadtplanung, Kommunalverwaltung und das Finanzwesen der Stadtverwaltungen –, schrieb drei Lehrbücher und beriet parallel dazu die türkische Regierung, für die er Gesetzesentwürfe und Tarifordnungen entwarf.
Die meisten Wissenschaftler, die ins Exil flohen, durchliefen mehrere Stationen, bevor sie sich wieder an einer Hochschule oder einem Forschungsinstitut niederlassen konnten. Der Philosoph Karl Löwith (geboren 1897 in München, gestorben 1973 in Heidelberg) etwa, der bei Edmund Husserl und Martin Heidegger studiert hatte und sich vor allem mit Nietzsche, Hegel, Feuerbach und Burckhardt beschäftigte, gelangte mithilfe eines Stipendiums der Rockefeller Foundation 1934 nach Rom. 1938 erließ Italien ähnliche „Rassegesetze“ wie die nationalsozialistischen „Nürnberger Gesetze“, sodass die italienischen und aus Deutschland geflohenen Juden erneut in Gefahr waren. Löwith bemühte sich vergeblich um eine Professur in den USA und in Kolumbien, wurde dann aber an die japanische Universität von Sendai berufen, denn seine Forschung war in Japan sehr bekannt. Die Reiseroute, die er und seine Frau nahmen, führte von Neapel durch |68| den Suezkanal über Singapur, Hongkong, Shanghai und Kobe. In Sendai empfing man das Ehepaar Löwith sehr freundlich, und dass sie ein eigenes Haus zur Verfügung hatten und bald auch ihre Möbel und Bücher aus Deutschland kamen, erleichterte es ihnen, sich in Japan wohlzufühlen. Dazu trug auch bei, dass Löwith direkt an seine in Deutschland und Italien begonnenen Arbeiten anknüpfen und Vorlesungen und Seminare über Nietzsche und Hegel halten konnte – noch dazu auf Deutsch. Zwar interessierte sich Löwith für die japanische Kultur und fernöstliche Philosophie, doch letztlich meinte er, die Exilerfahrung in Japan habe ihn nicht sehr beeinflusst:
Man lernt zwar Einiges hinzu [...], aber man wird nicht ein Anderer; man bleibt auch nicht einfach derselbe, aber man wird, was man ist und innerhalb seiner Grenzen sein kann. 24
Dies änderte sich, als Löwith und seine Frau 1941 in die USA gingen. Aufgrund des deutsch-japanischen Bündnisses war die Lage in Sendai unsicher geworden, und der ebenfalls geflohene Theologe Paul Tillich (geboren 1886 in Starosiedle, Polen, gestorben 1965 in Chicago) sowie sein amerikanischer Kollege Reinhold Niebuhr verhalfen Löwith zu einer Stelle am Theologischen Seminar in Hartford, Connecticut. 1949 wurde er dann Professor an der New School for Social Research, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Westdeutschland 1952 lehrte. Zwar bestand die Fakultät der New School überwiegend aus exilierten Wissenschaftlern, die untereinander Deutsch sprachen, doch der
Weitere Kostenlose Bücher