Reise ohne Wiederkehr
einigen Fällen eröffnete es gänzlich unerwartete Berufschancen. Generell hatten Jugendliche bessere Chancen, Fuß zu fassen, weil sie ihre Ausbildung noch nicht oder nicht vollständig absolviert hatten und deshalb die Schulen des Gastlandes besuchten. Dies machte es für sie nicht nur einfacher, sich sozial und sprachlich einzufinden, sondern erleichterte auch die berufliche Integration, weil ihre Ausbildung den landesüblichen Anforderungen entsprach. Der bereits erwähnte Arno Motulsky, der als Jugendlicher von Hamburg über Havanna, Brüssel, Marseille und Spanien in die USA geflüchtet war, hatte Glück: Im Alter von zwanzig Jahren wurde er 1944 in die amerikanische Armee eingezogen. Dort wurde er für ein besonderes Programm ausgewählt, das ihm das Medizinstudium |62| ermöglichte. Ohne noch am Krieg teilnehmen zu müssen, wurde Motulsky auf diese Weise Arzt. Er begann sich mit Hämatologie zu beschäftigen und wurde bald zu einem Spezialisten auf diesem Gebiet. 1957 machte er eine Entdeckung, mit der er zum Begründer der Pharmakogenomforschung wurde, der Forschung, die den Einfluss von Genen auf die Wirkung von Medikamenten untersucht.
Motulskys Vergangenheit als Verfolgter prägte sein professionelles und privates Leben. Als wissenschaftlicher Experte nahm er am Prozess gegen den berüchtigten Genetiker Josef Mengele teil, der in Auschwitz brutale Menschenversuche durchgeführt hatte. Auch im Alltag sei ihm sein Schicksal präsent, betonte Motulsky in einem Interview 2008: Immer, wenn ihm etwas Gutes passiere, denke er sich: „Das hätte ich fast nicht erlebt“, und immer dann, wenn er Bilder von Flüchtlingslagern in Afrika sehe, denke er: „Das hätte ich sein können. Ich war einmal ein Flüchtling“. 19
Gegenüber jenen, die im Exil ganz neu anfangen mussten, profitierten viele geflohene Wissenschaftler von besseren Ausgangsbedingungen. Mehr noch als heute waren Wissenschaftler Teil der gesellschaftlichen Elite – ein Status, der ihnen zu Vorteilen verhalf, die sich ganz konkret auf die Umstände des Exils niederschlugen. Einige erhielten noch vor der Ausreise Angebote ausländischer Universitäten und Forschungsstellen oder befanden sich zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme zu Forschungszwecken im Ausland.
Dem Begründer der Allgemeinen Relativitätstheorie und Nobelpreisträger, Albert Einstein (geboren 1879 in Ulm, gestorben 1955 in Princeton), kam seine Weltberühmtheit eindeutig zugute. Als erklärter Pazifist und Demokrat, der sich in zahlreichen politischen Komitees und Organisationen (u. a. in der Deutschen Liga für Menschenrechte und der Internationalen Arbeiterhilfe) engagierte, gegen den italienischen Faschismus protestierte und sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzte, war Einstein den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Bereits in den Zwanzigerjahren wurde er zur Zielscheibe rechter Propaganda gegen die angeblich „jüdische Physik“, der die vermeintlich überlegene „deutsche Physik“ gegenübergestellt wurde.
|63| Aus diesen Gründen war er im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr sicher, ganz abgesehen davon, dass er dem neuen Regime nicht mit seiner Anwesenheit zu scheinbarer Legitimation verhelfen wollte. Ende Januar 1933, als Hitler an die Macht kam, hielt sich Einstein gerade in den USA auf. Zum Zeichen seines Widerstandes legte er seine Ämter nieder und trat im März 1933 aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften aus, die ihn aufgrund seines Judentums ohnehin ausgeschlossen hätte. Gleichzeitig veröffentlichte er eine Protesterklärung, in der er sich gegen „[d]ie Akte brutaler Gewalt und Bedrückung“ aussprach, „die gerichtet sind gegen alle Leute freien Geistes und gegen die Juden“. Weiterhin versicherte er die Gegner des NS-Regimes seiner Unterstützung und rief dazu auf, Europa „vor einem Rückfall in die Barbarei längst entschwundener Epochen zu bewahren“. 20 In einem weiteren symbolischen Schritt beantragte Einstein wenige Tage später die Entlassung aus der deutschen Staatsbürgerschaft. Allerdings verzögerte sich die Bearbeitung, und ein Jahr darauf wurde Einstein zwangsweise ausgebürgert; er blieb Schweizer Staatsbürger und nahm 1940 zusätzlich die amerikanische Staatsbürgerschaft an.
Die Nationalsozialisten reagierten auf Einsteins Handeln mit Hetzkampagnen und Enteignung. Sein Haus in Caputh (bei Potsdam) und die Wohnung in Berlin wurden geplündert und beschlagnahmt. Am 10. Mai wurden
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