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Reise ohne Wiederkehr

Reise ohne Wiederkehr

Titel: Reise ohne Wiederkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna R. Unger
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jüdischen Familie stammte und deshalb bedroht war, über Großbritannien in die USA.
    |73| Dort lehrte er an der Yale University Geschichte. Ab 1943 war er an leitender Stelle in der Forschungsabteilung des OSS tätig. In seinen Analysen betonte er, wie groß die Ähnlichkeit Deutschlands und Westeuropas sei; damit wollte er aufzeigen, dass die nationalsozialistische Ordnung nicht, wie ihre Repräsentanten behaupteten, den „wahren deutschen Weg“ darstellte, sondern eine fatale Abweichung von der ursprünglichen historischen Entwicklung sei. Folgerichtig müsse Deutschlands „Rückkehr“ auf den „rechten Weg“ mit der Befreiung vom Nationalsozialismus beginnen und sich in der Etablierung demokratischer Strukturen und der Verankerung liberaler Werte verstetigen, meinte Holborn. Nach dem Krieg setzte er seine Beratertätigkeit für das US-Außenministerium fort, bevor er an die Yale University zurückkehrte, wo er bis zu seinem Tod unterrichtete.
    Mit dem externen Blick auf die Geschichte und Gegenwart des eigenen Herkunftslands konnte auch eine Neueinschätzung der gesellschaftlichen und politischen Traditionen einhergehen, die bis zum Zeitpunkt der Emigration unsichtbar gewesen oder weniger prägnant erschienen waren. Der Einblick in die eigene Gesellschaft war von außen oftmals leichter und ermöglichte neue Erkenntnisse über die eigene Kultur, gerade auch im Vergleich mit der Gesellschaft des Gastlandes. Der Sozialdemokrat Fritz Croner fand in Schweden, einem Sammelpunkt der Exil-SPD, eine politische Ordnung vor, die ihm die Augen für die deutschen Probleme öffnete:
    Ich habe in Schweden nicht nur gelernt, was demokratische Politik tatsächlich beinhaltet, ich habe auch gleichzeitig gelernt zu verstehen, welche fundamentalen Mängel in unserem politischen Handeln und in unseren persönlichen Wertungen die deutsche Republik zu Fall gebracht haben. 29
    Ähnlich meinte Hans Baron 1951, dass es in den USA fraglos schwerwiegende politische und soziale Missstände gebe. Doch die bestehenden Probleme würden durch eine bestimmte politische Kultur aufgefangen und – wenigstens zum Teil – gelöst:
    |74| [D]er gute Wille und die immer wieder sich bildenden Protest- und Reformbewegungen sind so stark in diesem Lande, dass Optimismus und das Vertrauen, dass man zuletzt mit dem Bösen fertig werden wird, nicht sterben. Der wilde Hass, den man aus Europa, und vor allem aus Deutschland, kennt, existiert hier nicht, oder ist wenigstens viel geringer. Dadurch erscheint einem von hier aus Europa in vieler Hinsicht verkrampft, muffig und provinziell; man kann nicht mehr tauschen wollen. 30
    Offenbar hatte sich Baron so sehr von der deutschen Kultur entfremdet, dass es ihm schwerfiel, sich noch bzw. wieder in Deutschland zu verorten. Er blieb in den USA, wo er eine Stelle als Bibliothekar an einer Forschungsbibliothek in Chicago fand. Wiederholt war er als Gastprofessor an amerikanischen Universitäten tätig, doch eine eigene, feste Professur erhielt er nicht.
    Obwohl die emigrierten Historiker viele kluge Bücher und Artikel produzierten, blieb ihr Anteil an der Gestaltung der alliierten Deutschlandpolitik insgesamt vergleichsweise gering. Ihre Expertisen waren zu detailliert und zu abstrakt, als dass sie den konkreten Bedürfnissen der Besatzungsmächte entsprochen hätten. Dass sie die amerikanische Propaganda häufig als zu plump oder gar kontraproduktiv kritisierten und damit leicht „besserwisserisch“ erschienen, trug dazu bei, dass die meisten Regierungsstellen die Emigranten auf Distanz hielten.
    Etwas bessere Chancen als die Historiker, Einfluss auf die amerikanische Deutschlandpolitik zu nehmen, hatten exilierte Sozialwissenschaftler, die vor und während des Krieges für die US-Regierung arbeiteten. Eine große Gruppe von exilierten Politologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen fand sich an der New School for Social Research zusammen. Ihnen war gemeinsam, dass sie in der Weimarer Zeit versucht hatten, moderne Ansätze und Methoden zu entwickeln, um die akuten sozialen und politischen Probleme zu lösen und die junge deutsche Demokratie zu stabilisieren. Den USA unter |75| Präsident Roosevelt, der von der Bedeutung wissenschaftlicher Expertisen überzeugt war und im Zuge des New Deal sozialstaatliche Projekte initiierte, waren diese Vertreter der „Weimar Culture“ überaus willkommen. Gerhard Colm, Adolph Lowe, Hans Staudinger, Emil Lederer und Alfred Kähler waren einige der

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