Reise ohne Wiederkehr
Amerikaner tun sollten, um die deutsche Bevölkerung von ihrer Unterstützung für Hitler abzubringen, sie nach dem Ende des Krieges „umzuerziehen“ und das Land im demokratischen Sinne zu „erneu ern “. Eine der einflussreichsten Arbeiten war die Studie
Behemoth
(1942) des Juristen Franz Neumann (geboren 1900 in Katowice, gestorben |71| 1954 in Visp, Schweiz). Darin analysierte Neumann die Struktur des Nationalsozialismus und argumentierte, dass sich hinter der autoritären Fassade ein von Willkür und Terror getragenes System der Gesetzlosigkeit verberge, in dem verschiedene Gruppen um Macht konkurrierten. Neumann, der am Frankfurter Institut für Sozialforschung gearbeitet hatte, erlangte mit
Behemoth
große Berühmtheit. Er erhielt eine Professor an der Columbia University und war an den Vorbereitungen der Nürnberger Prozesse beteiligt, in denen führende deutsche Politiker, Bankiers und Militärs u. a. wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt waren.
Nur wenige Analysen, die Exilanten für das OSS verfassten, hatten solch großen Einfluss auf die amerikanische Wahrnehmung Deutschlands wie
Behemoth
. Doch für die beteiligten Wissenschaftler bedeutete eine Stelle beim OSS nicht nur ein vorläufig gesichertes Auskommen, sondern auch das Gefühl, gebraucht zu werden und die eigene fachliche Qualifikation nutzen zu können. Außerdem verhalf die Arbeit einigen zu Kontakten mit amerikanischen Kollegen, die es ihnen nach dem Krieg erleichterten, Anstellungen zu finden. 27
Aus der Distanz gesehen – Der wissenschaftliche Blick auf Deutschland
Weit über die konkreten Kriegsanalysen hinaus konnte der wissenschaftliche Blick von außen auf das eigene Land helfen, die Forschungsperspektive zu erweitern; dies traf vor allem auf die geflohenen Historiker zu. Die deutsche Geschichtsschreibung besaß seit der Reichsgründung 1870/71 eine deutlich nationalistische Ausprägung. In der deutschen Historiographie der Kaiser- und der Weimarer Zeit dominierte ein Ansatz, der sich auf Preußens „große Männer“ und die „hohe Politik“ konzentrierte. In den Zwanzigerjahren gab es Versuche, diese Fixierung auf den Staat zu überwinden. Doch viele Vertreter solch neuer Konzepte galten seit 1933 als politisch „unzuverlässig“ oder konnten ihre Forschung aufgrund der rassistischen Diskriminierung nicht fortsetzen.
|72| Einer von ihnen war der berühmte Renaissancehistoriker Hans Baron (geboren 1908 in Berlin, gestorben 1988 in Chicago), der in die USA emigrierte. Dort stellte er fest, dass seine amerikanischen Kollegen ihre Forschung über die Reformation nicht auf die deutschen Gebiete beschränkten, sondern auch den Verlauf und die Bedeutung der Reformation in Frankreich, den Niederlanden und Schottland untersuchten. Denn obwohl die Reformation wesentlich von Luther und damit im deutschsprachigen Bereich initiiert worden war, handelte es sich um ein Phänomen, das über regionale und nationale Grenzen hinausreichte, die zur damaligen Zeit ohnehin durchlässiger waren. Baron machte es sich zur Aufgabe, seinen deutschen Kollegen diese transnationale Perspektive zu vermitteln und ihren Blick über die deutschen Landesgrenzen hinaus auf die Entwicklungen in Europa insgesamt zu lenken.
In der Nachkriegszeit übernahmen amerikanische Historiker die Herausgabe der deutschen Zeitschrift
Archiv für Reformationsgeschichte
, weil die Deutschen dazu finanziell nicht in der Lage waren. Von nun an erschien die Zeitschrift zweisprachig, was den westdeutschen Historikern die Gelegenheit gab, Kontakte zu ausländischen Kollegen zu knüpfen und ihre vom Nationalsozialismus und Krieg verursachte Isolierung zu durchbrechen. 28
Ähnlich wie Baron, der die nationalistische Verengung des deutschen wissenschaftlichen Blicks kritisierte, arbeitete Hajo Holborn (geboren 1902 in Berlin, gestorben 1969 in Bonn) gegen die Idee an, dass es einen „natürlichen“, historisch gewachsenen Gegensatz zwischen Deutschland und Westeuropa gebe. Er verwarf die Idee, dass der deutsche „Geist“ der westeuropäischen „Kultur“ überlegen sei und sich die Deutschen nicht für die parlamentarische Demokratie eigneten. Holborn hatte – wie Baron – bei Friedrich Meinecke promoviert, war SPD-Mitglied und Professor an der privaten, mit amerikanischen Mitteln finanzierten Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, an der er dezidiert demokratische Positionen vertrat. 1933 floh er mit seiner Ehefrau, die aus einer
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