Reise ohne Wiederkehr
der NS-Zeit aberkannten Ämter und Würden zurückzuerhalten, schienen ihnen inakzeptabel. Albert Einstein, der 1946 von einem in Deutschland gebliebenen Kollegen aufgefordert wurde, wieder der Bayerischen Akademie der Wissenschaften beizutreten, antwortete:
Nachdem die Deutschen meine jüdischen Brüder in Europa hingemordet haben, will ich nichts mehr mit Deutschen zu tun haben, auch nichts mit einer relativ harmlosen Akademie. 1
Angesichts der „Erkenntnis über das volle Ausmaß des Holocaust“ entschieden sich nur vier bis fünf Prozent derjenigen, die aufgrund der „rassischen“ Verfolgung ins Exil geflohen waren, nach dem Krieg für die Rückkehr. „Deutschland, das war keine Heimat mehr, das war das Land der Mörder.“ 2
Anders war die Situation derjenigen, die – ob offiziell jüdisch oder nicht – Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatten. Einige von ihnen dachten bereits während des Krieges darüber nach, ob, wann und wie sie in ihre frühere Heimat zurückkehren könnten. Alfred Döblin ging im Herbst 1945 nach Deutschland und arbeitete |111| dort für die französische Besatzungsmacht. Für ihn war immer klar gewesen, dass er sobald wie möglich zurückkehren würde, weil er im fremdsprachigen Exil keinen Erfolg hatte und beständig auf fremde Hilfe angewiesen war. Zudem spürte er eine Verpflichtung gegenüber Deutschland – wie er an seine Freunde schrieb: „Messieurs, man muss zurückkehren. Man braucht Euch!“ 3
Tatsächlich empfanden es viele Exilanten als Pflicht, sich am Aufbau eines anderen, besseren Deutschland zu beteiligen. Sie hatten bereits im Exil begonnen, Entwürfe für eine Nachkriegsordnung zu formulieren, die sicherstellen sollte, dass Deutschland nicht erneut dem Faschismus verfiel. Ernst Reuter war einer derjenigen, die noch während des Krieges begannen, ihre Rückkehr nach Deutschland vorzubereiten, um möglichst früh Einfluss auf die Neuordnung des Landes nehmen zu können.
Vom türkischen Exil aus schrieb Reuter an seine SPD-Genossen in Großbritannien, Schweden und den USA, um sie wissen zu lassen, dass er für politische Ämter zur Verfügung stünde, sobald der Krieg vorbei sei. Auf diese Weise wollte er auch verhindern, dass er vergessen würde, wenn es um die Gestaltung der Nachkriegspolitik ging. Im April 1945 bat er die amerikanische Botschaft in der Türkei, ihm eine Reiseerlaubnis für Deutschland zu erteilen. Bis er eine solche Erlaubnis erhielt, verging mehr als ein Jahr. Das änderte jedoch nichts an Reuters Überzeugung, dass die Deutschen in Deutschland „in der tiefsten Erschütterung und Not […] Hilfe [brauchen], auch Führung und Leitung von solchen, die nicht geschwankt haben, die in sich (ich hoffe, ich darf das sagen) etwas von dem moralischen Fundament mitbringen, auf dem alleine aufgebaut werden kann“. Er glaube nur „an das eine: an die Pflicht, unsere Freunde aufzusuchen und mit ihnen zusammen das neue Werk zu beginnen, heute, morgen, ehe es zu spät ist“. 4
Die Vorstellung, dass die Exilanten eine Verantwortung gegenüber den „Daheimgebliebenen“ hätten und den Deutschen in ihrer Situation Unterstützung angedeihen lassen müssten, mag unverständlich erscheinen, ganz abgesehen von der für heutige Ohren pathetisch klingenden Formulierung. Doch für Politiker der Generation Reuters |112| war der Patriotismus etwas Selbstverständliches. Ein weiterer Grund für ihr ausgeprägtes Pflichtgefühl gegenüber Deutschland war das Bewusstsein um das Ausmaß der Verbrechen, die im Namen des Nationalsozialismus begangen worden waren. Verstärkt wurde es durch die Wahrnehmung, man habe die Nationalsozialisten nicht energisch genug bekämpft und die Demokratie nicht ausreichend verteidigt. Umso dringender schien es, dass der Neuanfang gelang, und deshalb galt es, die persönlichen Erfahrungen und Verletzungen zurückzustellen und sich ganz „der Sache“ zu widmen.
Reuter erhielt im Sommer 1946 die Genehmigung des britischen Foreign Office, nach Deutschland zurückzukehren. Anfangs erwog er, in die sowjetisch besetzte Zone zu gehen, deren Politik am weitesten mit seinen eigenen politischen Auffassungen übereinzustimmen schien. Angesichts der Zwangsvereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten entschied er sich jedoch dagegen und kehrte im November 1946 nach Hannover zurück, wo die provisorische SPD-Zentrale unter Kurt Schumacher ihren Sitz hatte. Von dort aus begann Reuter seine Rückkehr in die deutsche Politik, bis
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