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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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beschädigten Universum ist), schlurft er ins Bad, um sich den Schweiß vom Gesicht zu waschen. Der alte Schwindel meldet sich wieder, und während Mr.   Blank sich mit der rechten Hand Wasser ins Gesicht spritzt, muss er sich mit der Linken am Waschbecken festhalten. Als er den Hahn zudreht und nach dem Handtuch greifen will, wird ihm richtig schlecht, so schlecht, wie er sich den ganzen Tag noch nicht gefühlt hat. Die Störung scheint aus seinem Magen zu kommen, doch ehe er das Wort
Magen
aussprechen kann, steigt es ihm, begleitet von einem unangenehmen Ziehen im Unterkiefer, wie von selbst in der Luftröhre empor. Instinktiv umklammert er das Waschbecken mit beiden Händen und senkt den Kopf, wappnet sich gegen den Brechreiz, der ihn unerklärlicherweise befallen hat. Er kämpft ein paar Sekunden lang dagegen an, betet, dass er den Ausbruch abwenden kann, jedoch vergebens, und schon erbricht er sich ins Waschbecken. Man hat mich vergiftet!, schreit Mr.   Blank, als die Attacke vorbei ist. Diese Ungeheuer haben mich vergiftet!
    Als die Handlung wiederaufgenommen wird, liegt Mr.   Blank auf dem Bett und starrt an die weiße, frischgestrichene Decke. Nachdem die mörderischen Gifte aus seinem Organismus geschwemmt sind, fühlt er sich vollkommen kraftlos, halbtot von dem heftigen Kotzen, Würgen und Weinen, das sich vor wenigen Minuten im Badezimmer abgespielt hat. Und dennoch, falls so etwas überhaupt möglich ist, fühlt er sich wohler, friedlicherim Kern seines geschwächten Selbst, besser gerüstet für die Strapazen, die zweifellos noch auf ihn zukommen werden.
    Während Mr.   Blank die Decke anschaut, schält sich aus ihrem Weiß allmählich ein Bild heraus, und schließlich glaubt er, nicht mehr eine Decke zu betrachten, sondern ein leeres Blatt Papier. Warum das so ist, vermag er nicht zu sagen, aber vielleicht hat es mit den Abmessungen der Decke zu tun, die rechteckig und nicht quadratisch ist, woraus folgt, dass auch der Raum rechteckig und nicht quadratisch ist; zwar ist die Decke viel größer als ein Blatt Papier, ihre Proportionen jedoch entsprechen etwa denen eines üblichen Briefbogens. Als Mr.   Blank diesen Gedanken verfolgt, regt sich etwas in ihm, eine vage Erinnerung, die ihm immer wieder entgleitet, die jedes Mal auseinanderstiebt, wenn er ihr näher kommt; immerhin kann er in dem düsteren Nebel, der ihm die klare Sicht auf das Ding in seinem Kopf versperrt, undeutlich die Silhouette eines Mannes erkennen, eines Mannes, zweifellos er selbst, der an einem Schreibtisch sitzt und ein Blatt Papier in eine alte mechanische Schreibmaschine spannt. Wahrscheinlich einer dieser Berichte, sagt er leise vor sich hin und überlegt, wie oft er diese Geste schon wiederholt haben mag, wie oft im Lauf der Jahre, und dann erkennt er, es muss viele tausend Mal gewesen sein, tausend und abertausend Mal, mehr Papier, als irgendein Mensch an einem Tag, in einer Woche oder einem Monat zählen könnte.
    Der Gedanke an die Schreibmaschine erinnert ihn an das Typoskript, das er im Lauf des Tages gelesen hat, und nachdem er sich jetzt mehr oder weniger von der leidigen Aufgabe erholt hat, die weißen Klebebänder abzuziehen und wieder an den korrekten Stellen im Raum anzubringen, und nachdem sich der heftige Aufruhr in seinem Magen nun endlich gelegt hat, erinnert er sich wieder an seinen Plan, die Geschichte weiter auszuspinnen, die Erzählung bis zum Schluss auszuarbeiten und sich so auf den zusätzlichen, für den Abend angekündigten Besuch des Arztes vorzubereiten. Noch immer mit offenen Augen auf dem Bett ausgestreckt, überlegt er kurz, ob er schweigend weitermachen, das heißt, sich die Geschichte im Kopf erzählen soll, oder aber, ob er die Ereignisse laut vor sich hin sprechen soll, auch wenn niemand im Raum ist, der seinen Darlegungen folgen könnte. Da er sich eben jetzt besonders einsam fühlt, geradezu erdrückt von der Last der aufgezwungenen Einsamkeit, nimmt er sich vor, so zu tun, als säße der Arzt bei ihm, und es so zu halten wie zuvor, das heißt, die Geschichte mit seiner Stimme zu erzählen und nicht bloß im Kopf.
    Also, weiter geht’s, sagt er. Die Konföderation. Sigmund Graf. Die Fremden Territorien. Ernesto Land. Welches Jahr schreibt man an diesem imaginären Ort? Etwa 1830, schätze ich. Keine Eisenbahn, kein Telegraph. Man reist zu Pferde, und bis ein Brief ankommt, kann man bis an die drei Wochen warten. Ähnlich wieAmerika, aber nicht identisch. Zum einen gibt es keine

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