Reisen im Skriptorium
können.Mr. Blank weiß, er ist nicht in bester Verfassung, sein Kopf funktioniert nicht so gut, wie er sollte, aber er weiß auch, dass es ihm jetzt nicht schlechter geht als zu Beginn des Tages; von einem Schlaganfall kann er also nicht ausgehen, und wenn er die Fähigkeit zu lesen verloren hat, wie hat er dann seine Namensliste um die beiden Zusätze erweitern können? Er setzt sich auf die Kante des schmalen Betts und überlegt, ob er, nachdem Sophie den Raum verlassen hat, womöglich für ein paar Minuten eingenickt ist. Er erinnert sich nicht daran, eingeschlafen zu sein, aber am Ende ist das die einzige einleuchtende Erklärung. Eine fünfte Person hat den Raum betreten, eine Person, bei der es sich nicht um Anna, Flood, Farr oder Sophie handelt, und sie hat während Mr. Blanks kurzem, jetzt vergessenem Schlummer die Etiketten ausgetauscht.
Ein Feind schleicht auf dem Gelände herum, sagt Mr. Blank zu sich selbst, vielleicht mehrere oder gar viele Feinde, die miteinander im Bunde sind, und sie alle haben nur eines im Sinn: Sie wollen ihn in Angst versetzen, ihn in die Irre führen, ihm weismachen, dass er den Verstand verliert, als versuchten sie ihm einzureden, die Schattenwesen in seinem Kopf seien zu lebendigen Phantomen, zu körperlosen Seelen geworden, die den Auftrag haben, in seinen kleinen Raum einzudringen und so viel Chaos wie möglich zu verursachen. Aber Mr. Blank ist ein ordnungsliebender Mann, und die kindischen Possen seiner Entführer beleidigen ihn.Lange Erfahrung hat ihn die Bedeutung von Präzision und Klarheit in allen Dingen schätzen gelehrt, und in den Jahren, als er seine Untergebenen auf ihre verschiedenen Missionen in aller Welt schickte, ließ er es sich stets angelegen sein, die Berichte über ihre Aktivitäten in einer Sprache abzufassen, die keinen Verrat an der Wahrheit dessen beging, was sie in jedem einzelnen Stadium ihrer Reisen sahen, dachten und empfanden. Und daher geht es nicht an, einen Stuhl Schreibtisch oder einen Schreibtisch Lampe zu nennen. Wer solchen infantilen Schrullen frönt, stürzt die Welt ins Chaos und macht das Leben für alle, die nicht wahnsinnig sind, unerträglich. Mr. Blank ist noch nicht an den Punkt gelangt, wo er Gegenstände, die nicht mit ihren jeweiligen Namen beschriftet sind, nicht zu identifizieren vermag, aber dass seine Kräfte nachlassen, steht außer Frage, und er begreift, dass ein Tag kommen könnte, bald vielleicht, vielleicht schon morgen, wo sein Gehirn noch weiter abbaut und er darauf angewiesen sein wird, dass der Name eines Gegenstands auf demselben steht, damit er ihn überhaupt noch erkennen kann. Er fasst daher den Entschluss, den Schaden, den sein unsichtbarer Feind angerichtet hat, wieder rückgängig zu machen und die vertauschten Etiketten an ihre jeweils ursprüngliche Stelle zurückzubringen.
Die Arbeit dauert länger, als er gedacht hat, denn bald muss er feststellen, dass die mit den Wörtern beschrifteten Klebestreifen über eine schier übernatürlicheAdhäsionskraft verfügen und dass es unermüdliche Konzentration und Anstrengung erfordert, sie von der Oberfläche der Gegenstände zu lösen. Mr. Blank will den ersten Streifen mit dem linken Daumennagel abkratzen (das Wort WAND, das auf dem Eichenbrett am Fußende des Betts gelandet ist), aber kaum ist es ihm gelungen, den Nagel unter die Ecke rechts unten zu schieben, bricht ihm der Nagel ab. Er versucht es noch einmal, diesmal mit dem Nagel des Mittelfingers, der etwas kürzer und somit weniger zerbrechlich ist, und schabt fleißig an der störrischen rechten Ecke herum, bis er ein schmales Stück des Streifens vom Bett gelöst hat; dieses fasst er zwischen Daumen und Mittelfinger und zieht – vorsichtig, damit es bloß nicht reißt – den Streifen vollständig von dem Eichenholz ab. Ein befriedigender Moment, gewiss, doch um den zu erleben, hat es zwei Minuten mühsamer Vorbereitung bedurft. Da insgesamt zwölf Klebestreifen zu entfernen sind und er sich dabei drei weitere Fingernägel abbricht (womit er die Zahl der brauchbaren Finger auf sechs reduziert), wird der Leser es begreiflich finden, dass Mr. Blank über eine halbe Stunde braucht, bis er das Werk vollendet hat.
Die anstrengende Tätigkeit hat ihn erschöpft, und statt innezuhalten, sich im Raum umzusehen und sein Werk zu bewundern (das, so gering und bedeutungslos es erscheinen mag, für ihn nichts weniger als ein symbolisches Unternehmen zur Wiederherstellung der Harmonieeines
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