Reisen im Skriptorium
Schrank gibt, und warum er ihn nicht hat finden können. Zu schweigen von dem ewigen Rätsel der Tür – und ob sie von außen verschlossen ist oder nicht. Warum ist er davor zurückgeschreckt, ihr sein Herz auszuschütten, fragt er sich, ihr, dieser so ungemein einfühlsamen Person,die keinerlei Groll gegen ihn hegt? Ist das schlicht eine Frage der Angst, überlegt er, oder hat es mit der Behandlung zu tun, mit dieser gesundheitsschädlichen, schwächenden Behandlung, die ihm nach und nach die Kraft geraubt hat, sich zu wehren und seinen Kampf selbst zu führen?
Mr. Blank kann sich keinen Reim darauf machen, er zuckt die Schultern, schlägt sich auf die Knie und steht vom Bett auf. Einige Sekunden später sitzt er am Schreibtisch, den Kugelschreiber in der Rechten, den kleinen Notizblock auf der ersten Seite aufgeschlagen vor sich. Er sucht die Liste nach Annas Namen ab, entdeckt ihn in der zweiten Zeile unmittelbar unter James P. Flood und schreibt in Druckbuchstaben dahinter B-l-u-m-e, so dass der Eintrag
Anna
zu
Anna Blume
wird. Da alle Zeilen der ersten Seite ausgefüllt sind, schlägt er Seite zwei auf und fügt der Liste zwei weitere Namen hinzu:
John Trause
Sophie
Als er den Block zuklappt, kommt ihm die verblüffende Erkenntnis, dass ihm Trauses Name ohne jede Anstrengung zugeflogen ist. Nach so vielen Mühen, so vielen vergeblichen Versuchen, sich an Namen, Gesichter und Ereignisse zu erinnern, betrachtet er dies als einen Triumph erster Ordnung. Zur Feier seiner Leistung schaukelter ein wenig auf dem Stuhl herum und fragt sich dabei, ob die zu Mittag eingenommenen Pillen dem zuvor erlebten Gedächtnisverlust abgeholfen haben oder ob das einfach ein glücklicher Zufall ist, eins dieser unerwarteten Dinge, die uns ohne erkennbaren Grund zu widerfahren pflegen. Was auch immer die Ursache sein mag, er beschließt, jetzt weiter über die Geschichte nachzudenken, im Vorgriff auf einen möglicherweise am Abend stattfindenden Besuch des Arztes, denn Farr hatte versprochen, er werde alles in seiner Macht Stehende tun, ihm zu ermöglichen, die Geschichte zu Ende zu erzählen – nicht erst morgen, wenn Mr. Blank das meiste von dem, was er bis dahin berichtet hat, zweifellos vergessen haben wird, sondern heute noch. Während der alte Mann weiter auf dem Stuhl schaukelt, fällt sein Blick jedoch auf das Stück weißen Klebebandes, das auf der Schreibtischplatte befestigt ist. Er hat diesen Streifen Klebeband im Lauf des Tages mindestens fünfzig bis hundert Mal gesehen, und jedes Mal hat darauf deutlich lesbar das Wort SCHREIBTISCH gestanden. Jetzt liest Mr. Blank dort zu seiner Überraschung das Wort LAMPE. Zunächst glaubt er, seine Augen spielen ihm einen Streich, und er lässt das Schaukeln sein, um sich das genauer ansehen zu können. Er beugt sich vor, senkt den Kopf, bis er mit der Nase fast an das Klebeband stößt, und betrachtet das Wort mit aller Sorgfalt. Zu seinem gewaltigen Verdruss lautet es immer noch LAMPE.
Zunehmend beunruhigt, klettert Mr. Blank von seinem Stuhl und beginnt im Raum umherzuschlurfen; vor jedem der an den verschiedenen Gegenständen befestigten Streifen weißen Klebebandes bleibt er stehen, um herauszufinden, ob auch noch andere Aufschriften geändert worden sind. Nach gründlicher Untersuchung kommt er zu dem entsetzlichen Ergebnis, dass kein einziges Etikett mehr an der ursprünglichen Stelle klebt. Die Wand heißt jetzt STUHL. Die Lampe heißt jetzt BAD. Der Stuhl heißt jetzt SCHREIBTISCH. Mehrere mögliche Erklärungen schießen Mr. Blank durch den Kopf. Er hat einen Schlaganfall oder sonst irgendeine Hirnverletzung erlitten; er hat die Fähigkeit zu lesen verloren; jemand hat ihm einen bösen Streich gespielt. Aber wenn er, fragt er sich, einem Streich zum Opfer gefallen ist, wer kann dahinterstecken? Mehrere Leute haben ihn in den vergangenen Stunden besucht: Anna, Flood, Farr und Sophie. Er findet es undenkbar, dass eine der beiden Frauen ihm so etwas angetan haben könnte. Es trifft jedoch zu, dass er mit seinen Gedanken, als Flood zu ihm kam, ganz woanders war, und es trifft ebenfalls zu, dass er im Bad gerade die Toilettenspülung betätigt hatte, als Farr bei ihm eintrat, aber er kann sich nicht vorstellen, wie der eine oder andere dieser beiden Männer in der kurzen Zeit, die sie nicht in seinem Blickfeld waren – allenfalls einige Sekunden, praktisch kaum eine messbare Zeitspanne –, eine so komplizierte Austauschoperation hätten bewältigen
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