Reisende auf einem Bein
zusammen:
Der Sachbearbeiter in der U-Bahn. Er war nach Irene eingestiegen. Er hatte vor dem Einsteigen seinen Hut abgenommen. Was suchte er mit diesem teuren Hut in dieser Gegend, in der selbst die Bäume zerbrochen waren.
Der Sachbearbeiter hatte sich neben Irene gesetzt. Er hatte Irene eine Frage gestellt.
Irene hatte in der Sprache des anderen Landes geantwortet. Es war ein anderer Traum in der gleichen Nacht.
Der Sachbearbeiter hatte den teuren Hut auf sein Knie gelegt. Er hatte Irene an den Ellbogen gefaßt:
So hab ich mirs gedacht. Deutsch sprechen Sie nur, wenn Sie zu mir ins Büro kommen.
Irene hatte das Deutsche vergessen.
Einen einzigen Satz hätte Irene auf Deutsch sagen können: Weshalb vergleichst du immer, es ist doch nicht deine Muttersprache. Diesen Satz hatte Thomas gesagt.
Es wäre ein langer Satz gewesen. Er hätte bewiesen, daß Irene deutsch sprach. Doch er hätte mehr geschadet als genützt. Das wußte Irene sogar im Traum.
Träume haben ihre Gründe, hatte Thomas gesagt, als er seinen Lakritztraum erzählte:
Zuerst lag eine unebene Straße da. Dann ein Dorf mit einstöckigen, verstreuten Häusern. Du weißt schon, mehr zerrissen als bewohnt. Dann hab ich meine Frau und meinen Sohn auf einem Kindergeburtstag gesehn. Es waren mehr Erwachsene als Kinder da. Alle Erwachsenen waren Frauen. Und alle Kinder waren Mädchen.Jetzt fällt es mir auf, auch mein Sohn war ein Mädchen. Alle Frauen und alle Mädchen aßen Lakritzschnecken. Nur Lakritzschnecken gab es auf diesem Geburtstag. Alle hatten den Mund voll. Die Backen und die Hände. Auf dem Tisch, auf den Stühlen, unter dem Tisch, unter den Stühlen, lag alles voll mit Lakritzschnecken, die Frauen rollten sie auf, machten Knoten rein und aßen sie. Die Mädchen spielten mit aufgerollten Lakritzschnecken Eisenbahn.
So einen Traum wünsch ich niemandem, sagte Thomas, nicht einmal einem Feind.
Irene strich mit dem Handrücken über Thomas’ Wange:
Hast du Feinde.
Thomas zuckte die Schultern.
Du hast keinen Arbeitsplatz, gehst selten zu Behörden. Was du tust, ist privat.
Thomas dachte nach. Sagte:
Ja.
Sprach langsam, als kenne er das nächste Wort noch nicht: Ich habe Freunde. Und alle Freunde sind meine gewesenen, oder meine zukünftigen Feinde.
Hast du mich mitgezählt, fragte Irene.
Ich weiß es nicht, ich habe nicht gezählt.
Kennst du das Spiel, fragte Thomas:
Eine Schafherde auf der Wiese. Sie wird von einem Schäfer und einem Schäferhund bewacht. Genaugenommen bewacht der Schäfer nicht die Herde, sondern den Schäferhund. Im Wald hinter der Wiese lauern ein Wolf, ein Fuchs und ein Tiger den Schafen auf.
Thomas zeigte alles, was er sagte, mit den Händen.
Auf der Wiese, abseits, neben einem Baum, steht eine Pudeldame. Neben der Pudeldame liegt ein Blumenstrauß. Die Pudeldame ist weiß, sagte Thomas. Der Schäferhund ist zwischen seiner Pflicht, die Herde zu bewachen, und seiner Liebe zur Pudeldame hin und hergerissen. Er muß die wilden Tiere, wenn sie sich der Herde nähern, ehe es zu spät ist, vertreiben. Und er muß der Pudeldame, um ihr seine Liebe zu beweisen, den Blumenstrauß überreichen. Dabei darf er vom Schäfer nicht gesehen werden.
Natürlich spiel ich das Spiel gegen mich selbst, sagte Thomas. Er zeigte auf sich mit der Hand:
Das erste Spiel ist das beste. Ich hab viele Punkte. Dann spiel ich noch einmal und verlier. Das wird kein Spiel. Das wird eine Niederlage.
Natürlich bin ich immer der Schäferhund. Die wilden Tiere kann ich bei jedem Spiel mit anderen Personen besetzen. Auch die Pudeldame. Auch den Schäfer. Doch ich besetz ihn meist mit einem Zuhälter. Meine Beziehungen verändern sich jeden Tag durch das Spiel.
Als Schäferhund, sagte Thomas, werd ich natürlich nie gefressen. Mir passiert Schlimmeres: ich werde zermürbt. Und ich habe, egal, was ich tu, ein schlechtes Gewissen.
Das Spiel war nicht größer als ein Taschenrechner.
Laß mich der Schäferhund sein, sagte Irene.
Sie drückte auf den roten Knopf.
Der Wolf fraß ein Schaf. Der Schäfer drehte sich im Kreis. Der Schäferhund vertrieb den Fuchs.
Du darfst die Pudeldame nicht vergessen, sagte Thomas.
Irene lachte:
Ich kann den Schäferhund nicht verstehn, ich finde die Pudeldame widerlich.
Der Tiger fraß ein Schaf.
Thomas nahm Irene das Spiel aus der Hand:
Du mußt so fühlen wie der Schäferhund. Du mußt die Pudeldame lieben, sonst spielst du ein anderes Spiel.
Irene nahm aus dem Obstteller den einzigen gelben
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