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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Man glaubt, man kann von diesen Sätzen leben, weil sie waghalsig sind.
    Neben dem grüngestrichenen Fenster waren Farbflecken. Der Arbeiter, den Irene sich ausgesucht hatte, hatte Nuancen zwischen grau und dunkelgrün ausprobiert.
    Doch die Sätze, nach ein paar Jahren, hat man sie satt.Sie haben einen ganz gewöhnlichen Klang, wenn man sie ausspricht. Und keine fremde Stimme, sagte Irene. Nur noch die eigene. Ein paar Wörter, die man sonst nicht ausspricht. Wie ein Photo, auf dem man selber ist, mit einem sonderbaren Ausdruck. Ihre Waghalsigkeit ist verloren.
    Waghalsig, das Wort gefällt mir, sagte Franz.
    Weshalb grasgrün, dachte Irene. Schaute die Farbflecken an.
    Dann war es der letzte Satz, den Franz sagte, denn er sagte: Ich wünsch dir was.
    Dieser Satz wünschte Irene nicht, was sie sich selber wünschte.
    Irene versuchte, den ersten Satz, den Franz gesagt hatte, zu wiederholen. Sie hatte ihn vergessen:
    Wenn es uns gäbe. Und was stand davor, und was stand danach. Es war ein Satz, der Irene nicht gehörte. Den sie sich nicht gemerkt hätte aus einem Buch.
    Am nächsten Vormittag brachte der Briefträger einen Eilbrief:
    »Sähe man die Stadt von innen, so wäre sie eine andere. Irene ist der Name für eine Stadt aus der Ferne, und nähert man sich ihr, so wird sie eine andere. Eins ist die Stadt für den, der vorbeikommt und nicht in sie hineingeht, ein anderes für den, der von ihr ergriffen wird und nicht aus ihr hinausgeht; eins ist die Stadt, in die man zum erstenmal kommt, ein anderes ist die, die man verläßt, um nicht zurückzukehren; jeder gebührt ein anderer Name; vielleicht hab ich von Irene schon unter verschiedenen Namen gesprochen; vielleicht habe ich überhaupt nur von Irene gesprochen.«
    Kein Wort ist von mir. Ich zitiere, schrieb Franz. Das Buch heißt: Die unsichtbaren Städte. Ich habe die Passage über die Stadt Irene vor Jahren angezeichnet. Ich habe sie damals mit keiner Person verbunden. Daß du jetzt so heißt, daß du so heißt, erschreckt mich.

12
    IRENE saß im Warteraum des Übergangslagers. Sie hatte die Wartenummer 501, obwohl außer ihr niemand da war. Irene hörte das Würgen der Kaffeemaschine hinter der Tür. Und die Stimme des Sachbearbeiters hörte sie. Eine langsame Stimme mit Pausen zwischen den Wörtern.
    Eine Sekretärin öffnete einen Spaltbreit die Tür. Sie winkte. Sie trug eine grüne Seidenbluse. Sie behielt die Türklinke in der Hand.
    Irene schlüpfte mit der Schulter voraus durch den Türspalt ins Büro. Die Sekretärin zeigte auf einen Stuhl, der neben dem Fenster stand.
    Der Sachbearbeiter saß am Schreibtisch. Er trank Kaffee. Auf dem Schreibtisch lagen keine Papiere. Eine Kaffeetasse und ein Sparschwein standen auf dem Schreibtisch.
    Der Sachbearbeiter verzog, bevor er den Kaffee schluckte, den Mund. Er schaute zum Fenster hinaus.
    Ein Fernlaster rauschte draußen, zwischen den Bäumen. Ein Pole, sagte der Sachbearbeiter.
    Er war aufgesprungen, mit der Kaffeetasse in der Hand. Er klopfte mit der Fingerspitze an die Fensterscheibe:
    Wie Sie sehen, ist er immer noch da.
    Sie haben recht, sagte die Sekretärin.
    Vielleicht verwechseln Sie ihn, sagte Irene.
    Die Sekretärin zupfte ein Blatt von einer müden Pflanze. Der Sachbearbeiter trank im Stehn:
    Keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Arbeitsgenehmigung. Nichts. Er schaute auf die Hand der Sekretärin, die das Blatt zerdrückte. Er machte einen Schritt über Irenes Schuhe. Irene schob die Schuhe unter den Stuhl. Erst als er wieder saß, stellte er die Kaffeetasse auf den Schreibtisch:
    Zum Verwechseln braucht es zwei. Mindestens. Was glauben Sie, wie ich mir die Gesichter merke. Sie können sicher sein, ich werde in Rente gehn, und ich werde sie alle noch kennen. Verwechseln mit wem.
    Mit einem anderen Polen, lachte die Sekretärin.
    Das kann sein, von denen gibts genug.
    Mit einem Deutschen, sagte Irene, mit einem deutschen Fahrer vielleicht.
    Irene sah den Riß in der Kaffeetasse und den Daumen des Sachbearbeiters.
    Die Sekretärin öffnete eine Schublade:
    Ich bitte Sie, Sie haben doch dieses Gesicht gesehn. Politisch verfolgt. Ja, wissen Sie, wenn jemand die Regierung stürzen will. Wo kämen wir da hin, was meinen Sie, wo kämen wir da hin.
    Die Dame kommt auch aus dem Osten, sagte der Sachbearbeiter.
    Die Sekretärin blätterte in Irenes Akte:
    Daß ich nicht lache.
    Sie lachte nicht.
    Irene erwachte verschwitzt, als wäre sie aus diesem Traum hinausgerannt.
    Andere Bilder setzten sich

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