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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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vergleichst du immer. Es ist doch nicht deine Muttersprache.
    Das hast du schon so oft gesagt.
    Irene wollte noch etwas hinzufügen. Warf, statt zu sprechen, den Apfelstiel durchs Fenster. Sah ihm nach, wie er flog.
    Dann lag Irene nackt neben Thomas im Bett. Heiße Wellen unter der Haut, ein verwässert rotes Kondom. Alles andere war weggeschwemmt aus dem Kopf.
    Draußen war es dunkel geworden. Das Fenster schimmerte.
    Irene zog langsam ihre Kleider an, wollte sich erinnern, wie sie nackt geworden war. Sie roch nach Schweiß und halb verduftetem Parfum. Und sie wollte, es gäbe sie nicht. Thomas stellte das Kissen an die Wand.
    Ich dachte, du bist schwul. Ich weiß es doch.
    Manchmal mach ich Ausnahmen, Irene, ich mußte dich doch rasch noch lieben, bevor du welkst.
    Irene suchte ihren zweiten Schuh. Er lag unterm Schreibtisch. Irene schlüpfte hinein und wußte: Sie hatte diesen Schuh fallen lassen. Sie hatte auf dem Schreibtisch gesessen. Thomas hatte gesagt:
    Du hast schöne Zehen.
    Vielleicht sagen Männer, die Männer lieben, solche Sätze, hatte Irene gedacht, Männer die Frauen lieben, sagen solche Sätze nicht.
    Thomas zog die Decke über seine Schultern.
    Alles endet im Bett, sagte Irene.
    Sie sah Thomas’ Haar an der weißen Wand.
    Reden wir nicht darüber. Oder reden wir darüber, wenn du willst. Dann rede.
    Es ist doch egal, ob wir reden oder nicht. Ob wir über welke Äpfel, oder Vogelscharen, oder deine Diplomaten, oder deine Strichjungen reden. Es geht uns doch nicht darum, Thomas. Im Grunde denken wir doch immer daran, worum es uns geht. Eigentlich setzen wir doch all unsere Gedanken dafür ein, es nicht zu sagen. Auch, wenn wir übers Wetter reden, denken wir daran, worum es uns geht. Einer von uns denkt doch immer daran. Der andere fühlt das. Ich bin es leid, Thomas, und kann es nicht ändern.
    Das ist böse, sagte Thomas.
    Irene kämmte sich im Dunkeln:
    Böse, das wär gut. Ungeheuerlich ist es, und es ist nicht gelogen.
    Der Himmel war heller als der Gehsteig. Er schien beleuchtet zu sein.
    Wir sind keine zwielichtigen Engel, Thomas, wir sind bloß zwielichtig.
    Das Kissen war weggerutscht von der Wand. Thomas stützte das Kinn auf die Knie:
    Was willst du jetzt tun, Irene.
    Irene hörte auf dem Gehsteig Schritte. Ging zum Fenster. Sah nur die Zigarette. Die war so weiß, daß sie den Gehsteig hütete mit ihrer Farbe. Geparkte Autos. Keine Schritte und dieses Geräusch.
    Draußen, vor dem Fenster, ging die Nacht auf und ab. Da hatte Irene das Gefühl, daß diese eine Nacht, und diese eine Stadt Verbrecher waren und Detektiv. Täter und Opfer, wie sie.
    Irene zog den Vorhang zu:
    Wir haben geschrieen, Thomas.
    Thomas zog Irene an der Hand zu sich aufs Bett:
    Ja, wir haben uns angeschrieen.
    Der welke Apfel wirkt. Ich bin wie ausgebrannt.
    Irene zog die Jacke an.
    Hast du gemerkt, Irene, wie oft wir uns beim Namen nennen, wenn wir uns nicht mögen. Wir haben Angst umeinander.
    Irene nahm ihre Handtasche:
    Das macht uns nicht besser, als wir sind. Ich will jetzt gehn.
    Du hast es gut, du kannst nach Hause gehn. Ich bin zu Hause.
    Thomas knipste das Licht an. Stellte das Zimmer und sich selbst hell in den Weg. Irene schob ihn zur Seite:
    Ich beeil mich, damit ich dir nicht böse bin.
    Ampeln wie Augen. Dann überkam Irene eine kalte Sicherheit. Als ginge sie über glänzendes Papier, ein Gegenstand, der sich von einer Ansichtskarte in die andere bewegte. Und alles, was sie denken wollte, lief davon. Dann lagen wieder ganze Gedankenzüge wie Straßenzüge in ihrem Kopf.
    Im strähnigen Licht, zwischen fahrenden Autos, ging ein Mann. Er ging auf dem weißen Streifen, der die Straße in Richtungen teilte. Sein Gesicht war dunkel. Seine Schuhe glänzten. Seine Jacke flog im Wind, und die Zähne des Reißverschlusses waren von den Scheinwerfern der Autos mit schwimmenden Kreisen beleuchtet.
    Im Innenhof leuchtete das Viereck. Die Frau ohne Bluse redete und bewegte die Hände vor dem Gesicht. Auf dem Gerüst stand der Schatten eines Eimers. Dann schlug die Rathausuhr hinterm Dach.
    Seit vier Stunden hatte der Tag begonnen.
    Das Wasser der Dusche kam in Stößen. Es schmerzte auf der Haut, als werfe jemand mit Sand.
    Irene wunderte sich, daß jetzt, wo sie nackt im Licht stand und sich bückte, ihre Schultern nicht auf die Zehen fielen.
    Im Vorzimmer krächzten die Dielen.
    Der Mann, der auf der Collage der Küchenwand unter leerem Himmel saß, schaute Irene, als sie das Licht ausknipste, ins

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